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Mikos Panajotopoulos
Die Erfindung des Zweifels
Reclam Verlag, Leipzig 2002


Der Zweifel wird in diesem Buch weder erfunden noch ein für alle Mal aus der Welt geschafft. Immerhin beschreibt der schmale, vielgelobte Roman des in Deutschland bisher weithin unbekannten griechischen Autors im "Portrait des todkranken Künstlers" die verheerenden Folgen der scheinbaren Überwindung unvermeidlicher Zweifel am Wert eines Kunstwerkes durch genetischen Nachweis der künstlerischen Begabung des jeweiligen Urhebers.




James Wright, ein zu Beginn des 21. Jahrhunderts geborener Schriftsteller, hat in jungen Jahren mit einer Sammlung von Erzählungen und einem ersten Roman überragenden kommerziellen und künstlerischen Erfolg, der bei zwei weiteren Romanen ausbleibt. Weitere Werke finden ein paar Jahre später keinen Verleger mehr, da der Autor es beharrlich ablehnt, sich einem genetischen Test seiner künstlerischen Begabung zu unterziehen. Seit Mitte der 30er Jahre des 21. Jahrhunderts genießt der sogenannte "Zimmermann-Test" breite Anerkennung, der nach einer aufsehenerregenden wissenschaftlichen Kontroverse den genetischen Nachweis künstlerischer Begabung durch Bescheinigung eines DNA-Labors ermöglicht. Die damit verbundenen mittelbaren und unmittelbaren Folgen für Künstler, Agenturen, Galerien, Verlage und Kritiker revolutionieren innerhalb kurzer Zeit die ganze Welt der Kunst. Verlage wie Galerien verfügen zum ersten Mal über ein vermeintlich sicheres Kriterium für die Auswahl ihrer Künstler und damit zugleich über die Möglichkeit, ihre Betriebskosten deutlich zu senken. Lektoren und Kuratoren werden durch den Test überflüssig, Kunstkritiker durch Marketingexperten verdrängt. Die neuen Gewißheiten über die künstlerische Bedeutung von Autoren und Werken eröffnen zugleich neue Zweifel am Wert alter Meister mit chaotischen Auswirkungen auf den Kunstmärkten, auf deren Entwicklung eine Zeit lang DNA-Labors größeren Einfluß haben als früher hochrenommierte Kunstsachverständige, bis deren Beiträge zur Überwindung des Zweifels eigene Zweifel an der Seriösität der vorgelegten genetischen Codes auslösen.




Die revolutionäre Entwicklung in Wissenschaft und Kunst kostet James Wright und viele andere Autoren ihre Karriere: entweder weil sie sich, wie er, dem Test verweigern oder weil der Test ihnen den Nachweis der geforderten genetischen Qualifikation schuldig bleibt. Neue Einkommens- und Beschäftigungsperspektiven ergeben sich erst, als der übersichtliche Markt der verbleibenden Autoren seine unvermeidlichen Engpässe produziert und anonyme Schriftsteller im wörtlichen wie übertragenen Sinne als "Ghostwriter" der überforderten Wunderkinder benötigt werden, die den Erwartungen ihres Publikums allein quantitativ nicht genügen können. Dass der auf diese Weise reaktivierte James Wright mit seinem letzten Roman einem gefeierten Jungstar der Literaturszene endlich zum Nationalpreis verhilft, ist eine schöne Pointe und noch besser als seine im Roman mit Vor- und Nachwort etwas umständlich vorgelegte Lebensbeichte, mit deren Veröffentlichung der ganze Schwindel postum buchstäblich in die Luft gejagt wird.




Die Wiederherstellung des Zweifels ist nicht der geringste Verdienst dieses Buches, dem eine brilliante Idee zugrunde liegt, auch wenn die daraus entwickelte Geschichte mit manchen ebenso unnötigen wie umständlichen Fußnoten nicht in der gleichen Weise rundum gelungen ist. Gelegentlich ertappt man sich bei dem Gedanken, was wohl ein Autor wie Ernest Hemingway aus diesem Stoff gemacht hätte, und beruhigt sich mit der schönen Erfahrung, dass Verlage nach wie vor offenkundig neuen Autoren auch ohne genetischen Test Publikationsmöglichkeiten eröffnen.




"Wenn der Zweifel ausbleibt, sprechen wir nicht mehr von Kunst, sondern von Propaganda." Mit dieser Botschaft wird das Buch in Erinnerung bleiben - und mit einer der schönsten Widmungen, die es in der Literaturgeschichte jemals gegeben hat: "Für alle jene, die sich Abend für Abend in das ungemachte Bett des Zweifels legen...".




August 2003


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