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José Saramago
Die Stadt der Sehenden
Rowohlt Verlag, Hamburg 2006


In der Geschichte des Nobelpreises für Literatur gibt es kaum weniger Fehlgriffe als Glücksgriffe, manchen Autoren hat selbst die prominenteste internationale Auszeichnung über die kurzfristige Aufmerksamkeit hinaus nicht zu nachhaltiger Bedeutung verholfen.


José Saramago, der in diesem Jahr – wie sein großer kolumbianischer Kollege Gabriel Garcia Marquéz – seinen achtzigsten Geburtstag feiert, ist eine doppelte Ausnahme: sein literarischer Rang ist unbestritten und die nach der Verleihung des Nobelpreises 1998 entstandenen Werke bestätigen die Richtigkeit dieser besonderen Würdigung und Wertschätzung.




„Wir kommen zur Welt und es ist, als hätten wir in diesem Augenblick einen Pakt fürs Leben unterzeichnet, doch kann der Tag kommen, an dem wir uns fragen, Wer hat das für mich unterschrieben“. Saramago ist der Spezialist solcher besonderen Tage oder Ereignisse, die existenzielle Fragen aufwerfen, auf die es selten allgemein gültige Antworten gibt. In seinem 2004 in Portugal erschienenen Roman beschreibt er die monströsen Folgen einer Kommunalwahl in der Hauptstadt einer ungenannten westlichen Demokratie, bei der drei Viertel aller Wähler leere Stimmzettel abgeben. Die Verdrängung und Verweigerung der nahe liegenden Einsicht in den massiven Vertrauensverlust der Wähler führt die amtierende Regierung in eine zunehmend groteske Serie widersinniger Maßnahmen zur Aufdeckung und Bekämpfung einer vermeintlichen Verschwörung, die am Ende selber die Demokratie torpediert, die das scheinbar unverantwortliche Wahlergebnis gefährdet haben soll.




Wie sein großer früherer Roman, „Die Stadt der Blinden“, den Saramago kunstvoll aufgreift und fortführt, ist auch „Die Stadt der Sehenden“ eine ebenso glanzvolle wie erschreckende Parabel über die Zerbrechlichkeit unserer Zivilisation im allgemeinen und die Gefährdungen der Demokratie im besonderen. Wie Franz Kafka, einer der herausragenden Autoren des 20. Jahrhunderts, die den Nobelpreis nie erhalten haben, besitzt José Saramago die seltene Begabung, im Alltäglichen und Gewöhnlichen das Außerordentliche zu entdecken, im Normalen das Groteske, und dabei freizulegen, wie das Banale und das Brutale gelegentlich nahe beieinander liegen – und welche Umwege das Leben manchmal nehmen muss, um die Verhältnisse wieder herzustellen, die man für normal halten möchte. „Die Menschen gelten allgemein als die einzigen Lebewesen, die imstande sind zu lügen, wobei sie dies nachweislich aus Angst oder Eigennutz tun, manchmal jedoch auch, weil sie rechtzeitig erkannt haben, dass es der einzige Weg zur Verteidigung der Wahrheit ist“.




April 2007


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