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Herta Müller
Die Atemschaukel
Hanser-Verlag, München 2009


Welche Titel Romane haben, entscheiden ihre Autoren und nicht selten ihre Verleger. Nicht immer hält das Buch, was der Titel verspricht. Der jüngste, zu Recht gefeierte Roman von Herta Müller heißt „Atemschaukel“ und verbirgt geradezu seinen Inhalt.


Die überraschende Auszeichnung mit dem bedeutendsten aller Literaturpreise wird die Auflage ihrer Bücher deutlich steigern, aber nicht unbedingt und schon gar nicht im gleichen Ausmaß die Anzahl ihrer Leser. Die „Atemschaukel“ wird das Schicksal vieler Klassiker teilen, die fast alle kennen, aber nur wenige gelesen haben.


Mir hat die Lektüre des preisgekrönten Romans auf bestmögliche Weise die Weihnachtstage verdorben oder genauer: das Bewusstsein befördert, was Menschen erspart geblieben ist, die wie ich in einem der glücklicheren Zeitabschnitte der deutschen Geschichte geboren und aufgewachsen sind, dazu in einer begünstigten Region, die von den historischen Turbulenzen nicht oder deutlich weniger betroffen war.


Herta Müller schildert das Schicksal der am Ende des zweiten Weltkrieges aus Rumänien nach Russland verschleppten Deutschen, zu denen auch ihre Mutter gehörte. In zahlreichen Gesprächen mit Überlebenden, vor allem mit Oskar Pastior, hat sie den Stoff gesammelt und zu einem bedrückenden literarischen Dokument verarbeitet.“Ich muss mich erinnern gegen meinen Willen. Und auch wenn ich nicht muss, sondern will, würde ich es lieber nicht wollen müssen“.


Mit einer fast lapidaren Präzision, die an Alexander Solschenizyns Roman „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ erinnert, beschreibt Herta Müller den aufreibenden, zermürbenden, vom ständigen Hunger geprägten Lageralltag, der die Menschen physisch wie psychisch verändert. „Das Lager ist eine praktische Welt. Die Scham und das Gruseln kann man sich nicht leisten. Man handelt in stabiler Gleichgültigkeit, vielleicht in mutloser Zufriedenheit. Sie hat mit Schadenfreude nichts zu tun. Ich glaube, je kleiner die Scheu vor den Toten wird, umso mehr hängt man am Leben.“


Wer gelegentlich Hunger hat, aber nie Hunger leiden musste, bekommt eine quälende Vorstellung von diesem unerträglichen Zustand zwischen Hysterie und Resignation und von dem „Hungerengel“ als ständigem Begleiter, der in verschiedenen Gestalten als Würge- und als Racheengel, als Bedrohung wie als Hoffnung, als Obsession und als Erlösung auftritt. Diese Erfahrung kann man nicht teilen, aber sie bleibt für immer, wenn man sie einmal gemacht hat. „Seit meiner Heimkehr hat jedes Gefühl an jedem Tag seinen eigenen Hunger und stellt Ansprüche auf Erwiderung, die ich nicht bringe. An mich darf sich niemand mehr klammern. Ich bin vom Hunger belehrt und aus Demut unerreichbar, nicht aus Stolz… Meine Heimkehr ist ein verkrüppeltes, ständig dankbares Glück, ein Überlebenskreisel, der sich wegen jedem Dreck zu drehen beginnt.“


Herta Müllers großes Buch ist eine Lektion zum Thema Glück. Und Demut. Und darüber, was das eine mit dem anderen zu tun hat.


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