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Gunter Hofmann
Abschiede. Anfänge - Die Bundesrepublik. Eine Anatomie
Kunstmann-Verlag, München 2002


"Es trifft nicht zu, so gern es auch behauptet wird, die Bundesrepublik sei unbeweg-lich, unglücklich, pessimistisch, und aus Rücksicht auf die unflexiblen Menschen sei die Poli-tik vorsichtig, langsam, unbestimmt. Ich halte das für eine Ausrede. Auf die zivile Gesell-schaft, die die Bundesrepublik geworden ist, kann man sich oft eher verlassen als auf viele ihrer Politiker".




Die Bilanz der von ihm angekündigten Anatomie der Bundesrepublik liefert Gunter Hofmann nicht am Schluss, sondern gleich im Vorwort seines lesenswerten Buches. Er beschreibt die Metamorphosen einer inzwischen mehr als 50jährigen, wiederver-einigten Republik mit ihren Abschieden und Anfängen. Berlin sei nicht Bonn, so wie Bonn nicht Weimar gewesen sei: Verabschiedet habe sich die Republik vom alten Parteienstaat, vom Wachstumsglauben, vom allzuständigen Sozialstaat, vom Mo-dellcharakter der So-zialpartnerschaft, nach einem halben Jahrhundert von der D-Mark und nach 16 Jahren auch von Helmut Kohl als ihrem dienstältesten Kanzler. Fast ein wenig sentimental ist die Charakterisierung der Ablösung Bonns durch Berlin als alter und neuer Hauptstadt mit dem unmittelbar vorher vollzogenen Umzug des Bundestages in den neuen, trans-parenten Plenarsaal des Stuttgarter Starar-chitekten Günter Behnisch: "Bonn verab-schiedete sich von sich selbst auf die opti-male Weise, der Architekt hatte ein Denkmal des Verschwindens gesetzt, eines, dem man nachtrauert, weil es ausdrücklich kein Mo-nument des Gedenkens, zur Erinne-rung, zum Nachtrauern war. Es war ein Parlament, sonst nichts. Es repräsentierte nicht markig deutsche Interessen oder gar neue deut-sche Größe, sondern nichts als sich selbst".




Anatomie kann man nur leidenschaftslos betreiben - ohne Sympathie oder Antipa-thie gegen die jeweilige Person. Gunter Hofmann kaschiert weder seine Leidenschaft für die Republik noch seine Sympathie für handelnde Personen. Ihn interessiert mehr als alles andere, wie "seine Generation" in einer neuen politischen Konstellation in Berlin ange-kommen ist und Verantwortung übernommen hat. Auch wo Hofmann die demokrati-schen Institutionen analysiert, spiegelt er sie im Verhalten ihrer Reprä-sentanten, vor-zugsweise ihrer Kanzler. Während Konrad Adenauer, mit dem alles begann, jedenfalls diese Republik, als eine Gestalt wie aus ferner Vorzeit erscheint, wird Willy Brandt aus der Perspektive der 68er Generation beschrieben. Sein Porträt gerät bei allen kritischen Einwänden zu einer Hommage, die langen Jahre mit Helmut Kohl dagegen zur Anato-mie eines großen Kanzlers, dessen Charakterisie-rung zwischen Bewunderung und Verzweiflung, Anerkennung und Anklage hin- und her gewendet wird. Für Oskar Lafontaine empfindet der Autor erkennbar mehr Sympathie, auch wenn die Spuren, die er hinterlassen hat, nur für eine "Fußnote der Geschichte" reichen: " Der gewaltige An-lauf", mit dem der Kurzzeitfinanzminister die Weltwirtschaftsordnung umbauen, dem angelsächsischen Kapitalismus den europäi-schen Sozialstaat gegenüber stellen und einen deutsch-französischen Beschäfti-gungspakt ins Leben rufen wollte, "all das hatte geradezu atemberaubendes Format, als wolle da einer alleine unbewusst das Scheitern einprogrammieren".




Bei Gunter Hofmann erfährt der Leser viel über Kontinuitäten und Diskontinuitäten der zweiten deutschen Republik. Als zentrales Thema wird wie ein roter Faden immer wie-der die Veränderung politischer Entscheidungsprozesse und öffentlicher Wahrnehmung durch die modernen Medien beschrieben, die inzwischen die Mei-nungsbildung in den demokratischen Institutionen stärker präge als diese umgekehrt die Berichterstattung in den Medien. Die Mediendemokratie sei die wahre Revolution der Berliner Republik. Glänzend ist auch die Behandlung der politischen und intel-lektuellen Auseinanderset-zung mit dem 11. September, seinen vermeintlichen Ursa-chen und möglichen Folgen sowie der "Detonation in den Köpfen", die damit verbun-den war, und den gemischten Gefühlen, die die Reaktionen auf dieses Ereignis zurückließen.




Es hat eine gewisse Folgerichtigkeit, dass das Schlusskapitel der sehr personen-orien-tierten Analyse der Betrachtung gewidmet ist, "wie Joschka Fischer und Gerhard Schröder sich selbst sehen". Es ist das schwächste Kapitel des Buches. Seinen zusam-menfassenden Befund zur aktuellen Lage der Nation hat der Autor schon im Vorwort formuliert. Wer dafür die Belege und Begründungen sucht, findet auf 450 Seiten reich-lich Material.


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