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Thomas Biebricher
Mitte/Rechts. Die internationale Krise des Konservatismus
Suhrkamp, Berlin 2023


Man muss nicht selbst ein erklärter Konservativer sein, um die Bedeutung einer stabilen politischen Mitte für die Vitalität einer Demokratie zu erkennen. Die Erfahrung erodierender Strukturen und Institutionen auch und gerade in westlichen Demokratien hat die wichtige Rolle verdeutlicht, die konservative Kräfte beim Aufstieg und Fall liberaler Verfassungssysteme spielen. Vor diesem Hintergrund lautet die Grundannahme der Studie von Thomas Biebricher über die internationale Krise des Konservatismus, „dass den Dynamiken der rechten Mitte nicht zuletzt und vor allem deshalb Aufmerksamkeit gebührt, weil sich hier das Schicksal der liberalen Demokratie entscheidet“ (S. 17).

Nach einer die Aktualität der Fragestellung in ihrem ideengeschichtlichen Kontext erläuternden Einleitung und vor der die dargestellten Befunde differenzierenden Zusammenfassung besteht der überwiegende Teil des Buches aus drei jeweils etwa 150 Seiten langen Fallstudien der Entwicklung des Parteiensystems in Italien, Frankreich und Großbritannien seit den neunziger Jahren, also nach dem Mauerfall und dem vermeintlich ultimativen Triumph der Demokratie, wobei die Mutationen traditioneller konservativer Parteien und die Neugründungen und/oder das Wiedertaufen politischer Gruppierungen rechts der Mitte in diesen Ländern gelegentlich mit ähnlichen Entwicklungen in anderen Ländern wie Österreich, Ungarn, Spanien, den Niederlanden und den USA verglichen werden.

„Dass der gemäßigte, zumal der christdemokratisch grundierte Konservatismus in der Krise steckt und sich erstarkenden autoritären Bewegungen und Parteien gegenübersieht, mit denen er um die Vorherrschaft über das Spektrum rechts der Mitte kämpft“ (S. 55), ist auch für Deutschland kaum zu bestreiten.

Biebricher beschreibt und beleuchtet das strukturelle Dilemma gemäßigt konservativer Parteien in der Konkurrenz zwischen liberalen und autoritären Orientierungen, die beide jeweils den Vorteil der Eindeutigkeit für die eine oder andere Richtung für sich haben, mit der Folge, dass gerade das Bemühen um Mäßigung die eigenen Anhänger eher frustriert als begeistert und zur Abwanderung an die eindeutigeren Alternativen verleitet. In Italien nach dem Kollaps der Democracia Cristiana, im nachgaullistischen Frankreich sowie in Großbritannien nach der Ära Thatcher finden sich dafür vielfältige, aber keineswegs identische Befunde. Von Bedeutung ist allerdings ein gemeinsames Entwicklungsmuster in den verschiedenen Ländern: „Die notwendige Bedingung für den Aufstieg rechtsautoritärer Kräfte ist ihre mehr oder weniger direkte Legitimierung beziehungsweise Normalisierung durch die Parteien der rechten Mitte“ (S. 501).

In seiner zusammenfassenden Bewertung unterschlägt der Autor nicht, dass die beobachteten ähnlichen Entwicklungen in den untersuchten Ländern keineswegs immer die gleichen Ursachen haben müssen. Das jeweilige, teilweise im Zeitablauf veränderte nationale Wahlrecht begünstigt oder behindert in erheblicher Weise mögliche und tatsächliche Veränderungen im jeweiligen Parteiensystem, und auch der überragende, in der aktuellen Medienlandschaft weiter zunehmende Einfluss konkreter Personen für die Wahrnehmung und die Erfolgsaussichten alter wie neuer Parteien werden von Biebricher ebenso deutlich wie farbig hervorgehoben.

Ohne Silvio Berlusconi und seine ökonomisch wie politisch erdrückende Medienpräsenz ist die mehrfache Transformation des italienischen Parteiensystems nach der Implosion der Democracia Christiana und der kommunistischen Partei nicht erklärbar, ebenso wie der Aufstieg und Fall alter und neuer Parteien in Frankreich wesentlich von so unterschiedlichen Führungspersönlichkeiten wie Nicolas Sarkozy und Emanuel Macron geprägt worden ist und die Turbulenzen der Konservativen Partei in Großbritannien von David Cameron und Boris Johnson. Bei allen Verschiedenheiten im Typus und Charakter ist ihnen die auffällige Begabung zur Selbstinszenierung gemeinsam und die Neigung zu einem Populismus, der in westlichen Demokratien seit mehr als zwei Jahrzehnten Schule gemacht hat und auch in Ländern wie Ungarn (Viktor Orbán), Polen (Jarosław Kaczyński), Österreich (Sebastian Kurz) und den Niederlanden (Geert Wilders) erstaunliche Karrieren befördert hat – bis zu den USA mit der legendären Präsidentschaft von Donald Trump.

Soweit die Verdrängung oder Marginalisierung rechtsextremer, nationalistischer Parteien dabei überhaupt gelungen ist, war der Preis in der Regel die weitgehende Übernahme von deren allzu populären, lange bekämpften Positionen unter Aufgabe eigener Prinzipien. Die aktuelle Entwicklung in Israel, die natürlich nicht Gegenstand dieser Fallstudie über die Krise des internationalen Konservatismus ist, verdeutlicht die verheerenden Wirkungen der Mutation einer ehemals gemäßigt konservativen staatstragenden Partei rechts der Mitte für die Architektur einer rechtsstaatlich verfassten Demokratie und die damit verbundene Polarisierung der Gesellschaft.

Aufmerksamkeit verdient auch der Hinweis Biebrichers auf die Bedeutung von Feindbildern für das Selbstverständnis wie die Mobilisierungsfähigkeit konservativer Parteien, denen mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Kommunismus ihr wohl potentestes Feindbild weggebrochen sei. Ob dies durch den entschlossenen Kampf gegen die sogenannte Woke-Ideologie mit Aussicht auf Erfolg zu kompensieren ist, erscheint durchaus fragwürdig: auch hier sind die Autoritären mit ihren kategorischen Eindeutigkeiten den Konservativen mit ihren Differenzierungen eher überlegen.

Das umfangreiche und an Wahlergebnissen wie Umfragen materialreiche Buch des Frankfurter Professors für Politische Theorie, Ideengeschichte und Theorien der Ökonomie ist ebenso informativ wie unterhaltsam. Die erkennbare Freude des Autors an zugespitzten Formulierungen erhöht durchaus die Lesefreude, ohne dabei an Seriosität einzubüßen. Die letzten Seiten behandeln mit eher journalistisch-prägnanter als wissenschaftlich-nüchterner Perspektive die aktuelle Situation in Deutschland und die Lage der Union als traditionelle Kraft des gemäßigten Konservatismus in der Herausforderung durch eine erstarkte autoritäre rechte Partei. Die damit verbundenen strategischen Fragen kann und muss freilich der Autor nicht beantworten, sondern die beiden, wiederum nicht identischen Unionsparteien selbst.


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