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Gertrude Lübbe-Wolff
Demophobie. Muss man die direkte Demokratie fürchten
Klostermann, Frankfurt am Main 2023


Ein breites Publikum wird dieses Buch vermutlich nicht erreichen; dem steht schon der ebenso originelle wie sperrige Titel „Demophobie“ im Wege, die Angst vor dem Volk. Gertrude Lübbe-Wolff, langjährige Richterin am Bundesverfassungsgericht, will mit ihrer Publikation kein juristisches Gutachten liefern, „sondern einen Beitrag zur Diskussion über Vor- und Nachteile, Chancen und Risiken direkter Demokratie leisten“.

Das gelingt ihr in eindrucksvoller Weise. Die typischen Vorbehalte gegen plebiszitäre Entscheidungsprozesse prüft sie anhand dokumentierter Erfahrungen aus dem In- und Ausland, wobei vor allem die Schweiz und die USA Berücksichtigung finden. Keine der üblichen Verdächtigungen hält ihrer Prüfung auf politische Konsistenz und empirische Evidenz stand: Die direkte Demokratie begünstige Demagogen, überfordere fachlich die Bürgerinnen und Bürger, gefährde Minderheiten, ermögliche unsoziale Entscheidungen, funktioniere ohnehin nur in kleinen Einheiten und passe prinzipiell nicht zu einer repräsentativen Demokratie. Alle Einwände nimmt die Autorin ernst, keinen lässt sie als sicher zutreffend gelten. Sie weist darauf hin, dass die pauschale Kritik an plebiszitären Entscheidungen die Wirkung und Gestaltbarkeit der jeweiligen Verfahrensregeln wie Quoren, Mindestbeteiligungen, Zulässigkeitskriterien, Fragestellungen, Informationsrechte und -pflichten verkenne.

Das prominenteste aktuelle Beispiel für Glanz und Elend von Volksentscheidungen ist wohl das umstrittene Brexit-Votum, auf das sich auch Lübbe-Wolff immer wieder kritisch bezieht und sowohl im Zustandekommen wie im Ablauf von so vielen Verfahrensmängeln belastet sieht, dass durchaus Zweifel an der rechtlichen Tragfähigkeit begründet seien; es tauge daher allenfalls als Beispiel dafür, wie man direktdemokratische Prozesse auf keinen Fall organisieren dürfe. Hier macht es sich die Autorin vielleicht zu einfach. Denn obwohl es sich beim Brexit-Referendum formal nicht um eine Regierung und Parlament bindende Entscheidung handelte, hatte und hat es faktisch bindende Wirkung, die trotz aller inzwischen eingetretenen unerwünschten und ungewollten ökonomischen und politischen Wirkungen weder von den gewählten Repräsentativorganen korrigiert noch zum Gegenstand einer neuen Abstimmung gemacht wird.

Die im deutlich knapperen zweiten Teil des Buches vorgetragenen „vernachlässigten Argumente für direktdemokratisches Entscheiden“ muss man nicht wie die Autorin für ihre erkennbaren Vorzüge halten: die Auflösung festgeschnürter Politikpakete, die Demokratisierung der auswärtigen Politik, das Gegengewicht zur Kurzfristorientierung repräsentativdemokratischer Politik und die Fehlerkorrekturfreundlichkeit. Die damit verbundenen Erwartungen sind mindestens so stark von Hoffnungen geprägt wie von Erfahrungen.

Das Fazit von Gertrude Lübbe-Wolff ist bei aller erkennbaren Sympathie für solche Verfahren bemerkenswert nüchtern: „Die grundsätzlichen Vorbehalte, die bis heute gern gegen direktdemokratisches Entscheiden mobilisiert werden, verallgemeinern Bedenken, die nur in Bezug auf bestimmte Ausgestaltungen direkter Demokratie berechtigt sind … Und ganz überwiegend handelt es sich um mitgeschleppte ideologische Rückstände einer Demophobie, die einst von jeder Demokratisierung Unheil erwartete.“

Umgekehrt sollte man auch das Heil nicht von jeder eingeforderten Demokratisierung erwarten. Aber zur sorgfältigen Unterscheidung des einen und des anderen trägt die kluge Studie zweifellos bei.


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