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Festrede zur Eröffnung der Ausstellung „Der frühe Dürer“ im Germanischen Nationalmuseum
In Nürnberg am 25. Mai 2012

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
meine Herren Minister,
liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem bayerischen Landtag und dem Deutschen Bundestag,
Herr Oberbürgermeister,
Herr Generaldirektor,
meine Damen und Herren,
verehrte Gäste!

„Über Malerei zu reden, hat keinen Sinn.“ Der Satz ist nicht von mir, sondern von jemandem, der weiß, wovon er redet: Gerhard Richter, dem deutschen Maler, der – wie Albrecht Dürer – schon zu Lebzeiten einen legendären Ruf genießt und unter den zeitgenössischen Künstlern einer der wenigen, vielleicht der Einzige ist, dessen handwerkliches Können und die darauf gestützte Bandbreite seines künstlerischen Schaffens den Vergleich mit den großen Gestalten der Kunstgeschichte aushält.

„Über Malerei zu reden, hat keinen Sinn.“ – Über Kunst zu schreiben, macht offensichtlich durchaus Sinn. Allein die Literatur über Albrecht Dürer umfasst inzwischen über zehntausend Titel. In der Bibliothek des Germanischen Nationalmuseums umfasst die reine Dürer-Literatur 27 Regal-Meter. Es ist alles gesagt oder geschrieben, jedenfalls fast alles, mehr als irgendjemand aufnehmen oder nachvollziehen kann. Im Katalog zu dieser Ausstellung, die wir heute eröffnen, finden Sie neben vielem, was Sie dort erwarten werden, manche bemerkenswerte Hinweise und Einsichten nicht nur zur Biografie Albrecht Dürers, sondern zu den Lebensumständen, unter denen er aufgewachsen ist, zu seinem Wohnumfeld, zu den frühen Reisen, zum Verhältnis von Tradition und Innovation und wie sehr das eine das andere voraussetzt, zur Natur, zu seiner Malerei, zu den Holzschnitten, den Kupferstichen, der Glasmalerei, der Architektur – nicht zuletzt zu Dürer in der deutschen Literatur. Eine spontane Überlegung, Ihnen als Festrede eine Kurzfassung der Katalogbeiträge vorzutragen, weil dies vermutlich die meisten von Ihnen zumindest bei der Eröffnung noch nicht bemerken würden, habe ich aufgegeben. Erstens, weil dies auch nicht wirklich gelungen wäre, und zweitens, weil alle diejenigen, die diese Ausstellung sehen, ganz sicher den Katalog als Ergänzung und Vervollständigung ihrer Einsichten mitnehmen werden. Die Kunstinteressierten in Deutschland, die diese Ausstellung nicht sehen können, brauchen den Katalog ohnehin.

Was man über Dürer wissen will, kann man nachlesen. Wenn man ihn begreifen, wenn man ihn verstehen will, muss man seine Werke sehen. „Über Malerei zu reden, hat keinen Sinn.“ – Was soll da Rede ausrichten, schon gar, wenn sie in verschärfter Form als eine „Festrede“ angekündigt wird. Meine Damen und Herren, ich werde nicht über die Malerei, die Kupferstiche oder die Aquarelle von Dürer reden, sondern über seine Zeit, über das, was uns beinahe selbstverständlich erscheint, jedenfalls in der inzwischen beachtlichen zeitlichen Distanz von einem halben Jahrtausend aus den Augen verloren gegangen zu sein scheint. Der Ruhm Albrecht Dürers ist fast so alt wie er selbst, über seinen Tod hinaus bleibt er als lebendiges Exemplar der Kunst- und Kulturgeschichte der Menschheit in Erinnerung.

Seit einer beachtlich langen Zeit werden insbesondere die runden Jahrestage zu Anlässen stets wiederkehrender Dürer-Festspiele. Dabei ist der Künstler immer wieder für kunstfremde Zwecke instrumentalisiert, auch nationalistisch vereinnahmt worden. Im 19. Jahrhundert, und schon gar in der Zeit des Nationalsozialismus, galt er als „Allerdeutschester“ in der Kunst. Das große Dürer-Jahr aus Anlass seines 500. Geburtstages setzte hingegen 1971 Maßstäbe in der wissenschaftlichen Erforschung – und erstmals, Herr Oberbürgermeister, auch im Marketing. Denn damals sorgte eine Werbekampagne für nachhaltiges Aufsehen mit Slogans wie „Deutschlands erster Hippie: Ein Nürnberger?“ – auch diese Frage kann inzwischen als beinahe beantwortet gelten. Aber wie sehr noch damals – und wir reden nur über eine zeitliche Distanz von vergleichsweise wenigen Jahren – die Erinnerung auch im Spannungsfeld politischer Wahrnehmungen stand, will ich Ihnen mit folgendem Zitat verdeutlichen. Das Zentralkomitee der SED erklärte 1971: „Dürers Werk kann erst heute alle in ihm liegenden Wirkungsmöglichkeiten, seine ganze Kraft umfassend entfalten. So hat es seine feste Heimstadt in der DDR gefunden und bestätigt auf eindrucksvolle Weise die Erkenntnis Johannes R. Bechers: ‚Alles Große der Vergangenheit bedarf des Revolutionären von heute, um fortwirken zu können.‘“ Naja, jedenfalls hat das Werk Albrecht Dürers im Vergleich zu vielen Revolutionen und manchen Revolutionären, die sich für solche gehalten haben, die Zeiten überdauert – auch manch despektierliche Bemerkungen späterer Künstlerkollegen, wie etwa von Georg Baselitz, der zu der bemerkenswerten Einschätzung gekommen ist: „Für mich ist Dürer überhaupt Studienratskunst.“ Ähnlich salopp formuliert: Wenn die pädagogischen Künste der Studienräte in Deutschland eine ähnlich durchschlagende und nachhaltige Wirkung entfalten würden, wie das für Albrecht Dürers Werk offensichtlich gilt, müssten wir uns um Pisa-Studien und die Wettbewerbsfähigkeit künftiger Generationen keine ernsthaften Gedanken machen. Und da Sie, Herr Oberbürgermeister, zu Recht empfohlen haben, sich besser nicht mit den Nürnbergern anzulegen, hat Baselitz prompt den Kürzeren gezogen, wie jede Annäherung an die beiden Künstler über eine Google-Suche hinreichend belegt: Zu Georg Baselitz findet man immerhin 136.000 Einträge, fragt man jedoch bei Albrecht Dürer nach, sind es 7 Millionen. Das Interesse ist also einschlägig verteilt.

Meine Damen und Herren, Albrecht Dürer gilt aus guten Gründen als „erster moderner Künstler diesseits der Alpen“, wie ihn Ludwig Grote, der ehemalige Generaldirektor des Germanischen Nationalmuseums, einmal bezeichnet hat. Dass man zu dieser Einschätzung wohl zu Recht gekommen ist, hängt im Wesentlichen mit den Zeitumständen zusammen, in denen Dürer gelebt und gewirkt hat, einer Zeit des Umbruchs, der in die Moderne wies, eine weltweite Vernetzung anstieß und zugleich begleitet war von Untergangsstimmungen, die Albrecht Dürer selbst etwa in seiner Apokalypse festgehalten hat. Wissenschaft, Humanismus und Reformation schufen neue Denkhorizonte, ein neues Weltverständnis, ein neues Weltbild. Ein neues Menschenbild entstand, antikes Wissen wurde wiederentdeckt, Erfindungen revolutionierten das Leben. Der Siegeszug des Drucks schuf mit Massenmedien neue Kommunikationsmöglichkeiten, die religiöse Auseinandersetzungen, die es natürlich auch vorher schon gegeben hatte, erstmals zu Massenereignissen werden ließen. Der soziale Wandel entlud sich in Unruhen, vor allem in den Bauernkriegen.

Wir, meine Damen und Herren, leben in einer Zeit, von der wir zu Recht annehmen, sie sei besonders aufregend und spannend. Wenn wir die Entwicklungen der letzten zwanzig, dreißig Jahre in Deutschland und Europa, die wir inzwischen für eine schiere Selbstverständlichkeit halten, nachdem sie jahrzehntelang völlig ausgeschlossen schienen, gelegentlich in unser Bewusstsein zurückholen, dann wird man schwerlich bestreiten wollen: Das sind wirklich aufregende Zeiten! Der damit gelegentlich verbundene Rückschluss, früher sei es langweilig gewesen, ist aber voreilig. In den fünfzig Jahren vor Dürers Geburt etwa endete der Hundertjährige Krieg zwischen Frankreich und England, tobten in England die Rosenkriege zwischen den Häusern York und Lancaster, in Mitteleuropa die Hussitenkriege, fiel 1453 Konstantinopel an das Osmanische Reich und erfand Johannes Gutenberg den Satz mit beweglichen Lettern, womit er die Buchkunst revolutionierte. Jedes einzelne dieser Ereignisse hatte massive Folgen für die Verfassung der Welt. Zu Lebzeiten Dürers wurde 1481 die Spanische Inquisition gegründet, auch in Deutschland fanden die ersten Hexenprozesse statt, der Portugiese Bartolomeo Dias umsegelte 1487 erstmals die Südspitze Afrikas, 1492 entdeckte Christoph Columbus Amerika, 1498 erreichte Vasco Da Gama Indien. 1486 wurde Maximilian von Habsburg deutscher König, 1493 deutscher Kaiser, 1492, im Jahr der Entdeckung Amerikas, Alexander VI. römischer Papst. 1496 fiel das spanische Königshaus an das Haus Habsburg, zu Lebzeiten Albrecht Dürers wurden die Medici aus Florenz vertrieben und nach der Theokratie von Savonarola reumütig zurückgeholt, Luther schlug seine berühmten Thesen an, 1525 brach der Bauernkrieg aus und die Türken belagerten Wien.

Dass das auch damals spannende, aufregende Zeiten waren, macht ein zusätzlicher Blick auf das Personal-Tableau deutlich: Zeitgenossen Dürers waren Leonardo da Vinci, Michelangelo Buonarotti, Lucas Cranach der Ältere, Raffael, Tizian, Veit Stoß, aber auch Nikolaus Kopernikus, Niccolò Machiavelli, Erasmus von Rotterdam; eine erlesene Gesellschaft. Der wesentliche Unterschied, der damaligen, umstürzenden, die Welt verändernden Ereignisse zu denen von heute besteht darin, dass die Zeitgenossen damals von den wenigsten Ereignissen überhaupt erfuhren, geschweige denn diese miterlebten. Nur einen Bruchteil dessen, was wir heute über diese Zeit wissen, haben die Menschen damals zeitgleich wahrnehmen können.

Meine Damen und Herren, die Namen Albrecht Dürer und Maximilian I. sind in der politischen, wie in der Kunst- und Kulturgeschichte zum Synonym einer Epoche in den deutschsprachigen Ländern geworden, und die damals entstandenen Kunstwerke werden heute wie damals in der ganzen Welt hoch geschätzt. Als Maximilian von Österreich als römisch-deutscher Kaiser seine Herrschaft antrat, war Deutschland eine labile Union, die sich aus einzelnen, ziemlich heterogenen, meist erbmonarchisch organisierten Territorien zusammensetzte. Oberhaupt dieser Union war der Kaiser, der in der wechselvollen Geschichte Europas oft mit der römischen Kurie um die Staatssouveränität und mit den angrenzenden Staaten um die wirtschaftliche Vormachtstellung rang. Unter dem Eindruck neuer geistiger Strömungen der Renaissance leitete Maximilian eine Staatsreform ein, nicht zuletzt auch aus dem politischen Interesse heraus, sein Handeln nicht länger durch päpstliche Beamte autorisieren lassen zu müssen.

Der eigentlich aufregende Impuls dieser Zeit der Renaissance und Reformation im ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jahrhundert war aber der Gedanke eines durch sich selbst bestimmten, also freien Menschen. Dies ist wiederum eine Denkfigur, der wir heute mit fröhlicher Selbstverständlichkeit unterstellen, nie anders gewesen zu sein, von der man aber wissen muss, dass die Menschheitsgeschichte bis zu diesem Zeitpunkt eher vom Gegenteil überzeugt war. Maximilian I. und Albrecht Dürer waren Teil einer Epoche, die im Begriff war, das Mittelalter hinter sich zu lassen, in dem ein Bild vom Menschen vorgeherrscht hatte, das diesen als Teil eines Universums verstand, ein Mittelalter, das die Welt nicht vom Einzelnen her begriffen, sondern dem Einzelnen seinen vorbestimmten Platz im Universum zugemessen hatte. Für Dürer als Person wie für die deutsche Kunstgeschichte im Besonderen ist keineswegs bedeutungslos, dass Maximilian der vielleicht erste relevante politische Führer war, der die modernen Möglichkeiten jetzt verfügbarer Kommunikationsmittel – die Druckerzeugnisse – als Medium politischer Information bzw. Propaganda erkannte und nutzte. Der Holzschnitt beispielsweise, der vorher meist kleinformatig insbesondere religiösen Publikationen gedient hatte, wurde nun gezielt als Mittel der Selbstdarstellung eingesetzt, mit zum Teil – von den Dimensionen, den Größenordnungen her – monströsen Publikationen. Die Funktion der Hofkunst war als Auftragskunst ausdrücklich politisch ausgerichtet und sollte viele Menschen erreichen, wenn eben möglich auch Entscheidungen beeinflussen.

Albrecht Dürer, Maler in der freien Reichsstadt Nürnberg, verdankt seinen Aufstieg zum führenden Künstler Nordeuropas ganz wesentlich kaiserlicher und fürstlicher Gunst. Aufträge von Kaiser Maximilian I., Friedrich dem Weisen von Sachsen oder Albrecht von Brandenburg bezeugen sein Ansehen und sind Stationen seines Ruhms. Albrecht Dürer ist auch deswegen einer der ersten individuellen Künstlerpersönlichkeiten unserer Kulturgeschichte, weil er zu einer virtuosen Umsetzung sowohl der künstlerischen wie der kommerziellen Möglichkeiten der neuen Medien bereit und in der Lage gewesen ist. „Cleveres Kerlchen“, würde man heute möglicherweise sagen, nachdem vorhin schon von Steve Jobs die Rede war, dessen künstlerisches Potenzial sich im Vergleich dazu allerdings sehr viel bescheidener darstellt. Dürer ist einer der ersten, der auf seine Originalität pochte. Natürlich ist er nicht der erste originelle und auch von seiner Originalität überzeugte Künstler gewesen, aber es gibt wenige Beispiele in der Kunstgeschichte, in denen sich jemand mit ähnlichem Selbstbewusstsein, einem geradezu dröhnenden Selbstbewusstsein, der eigenen Originalität nicht nur bewusst war, sondern sie ausdrücklich zur Schau und auch zum Verkauf stellte. Sein berühmtes Künstlermonogramm ist ein besonders bemerkenswerter Ausdruck sowohl dieses Selbstbewusstseins als auch seiner Marketingbegabung. Dürer, der bekanntlich aus einer Handwerkerfamilie stammte, begriff sich ausdrücklich nicht mehr als Handwerker, sondern als einen kreativen Schöpfer. Kein zeitgenössischer deutscher Maler überbot Dürer in der Anzahl seiner Selbstbildnisse, wobei manches dafür spricht, dass dies neben der Demonstration seines Selbstbewusstseins ebenso der Demonstration seines Könnens für künftige Porträtaufträge diente, die er dann auch reichlich bekam.

Renaissance-Mensch war Dürer auch als Universalkünstler: Er war Zeichner, Kupferstecher, Maler, Kostümbildner, Medailleur, Festungsbauer, Kunsttheoretiker, Mathematiker, Gelehrter; insofern vielleicht noch am ehesten mit Leonardo da Vinci vergleichbar. Mit der technischen Reproduzierbarkeit von Werken, von Schriften, von Texten, aber eben auch von künstlerischen Arbeiten im Übergang zur Neuzeit tauchte zum ersten Mal das Phänomen der Raubkopie auf. Wenn Sie wollen, beginnt in der Zeit Albrecht Dürers die Geschichte des Urheberrechts. Dürer gehörte wegen seiner Popularität und seiner stupenden Verkaufserfolge zu den meist kopierten Künstlern seiner Zeit. Verleger druckten seine überaus populären Drucke und Stiche nach, auch ohne die Erlaubnis dazu zu haben, und vor allem ohne eine Vergütung dafür zu zahlen. Das Problem kommt uns vertraut vor. Mit Nachdruck, und wenn nötig auch unter Inanspruchnahme von Gerichten, bestand Dürer auf die Durchsetzung seiner Urheberrechte. Und er erstritt vor ordentlichen Gerichten, dass „betrüglich nachgemachte Werke“ vernichtet werden mussten. Mit der Herausforderung neuer Vervielfältigungsmöglichkeiten entstand das Privilegienwesen, etwa das Autorenprivileg, von dem auch Albrecht Dürer Gebrauch machte. Vorhin ist bereits darauf hingewiesen worden, dass Maximilian I. Albrecht Dürer 1511 das kaiserliche Privileg des Verbotes des Nachdruckes zusicherte, das dann von Maximilians Nachfolger nach Dürers Niederlande-Besuch bestätigt wurde.

Meine Damen und Herren, gerade unter dem Gesichtspunkt von 500 Jahren Zeitunterschied bei gleichzeitiger Modernität der Auseinandersetzung möchte ich Ihnen ein kurzes Zitat von Albrecht Dürer vortragen, in dem er sich mit dem Ärgernis illegaler Nachdrucke auseinandersetzte: „Wehe Dir, Betrüger und Dieb von fremder Arbeitsleistung und Einfällen! Lass es Dir nicht einfallen, Deine dreisten Hände an diese Werke anzulegen! Denn lass Dir sagen, dass uns das Privileg durch den ruhmreichsten Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, Maximilian, erteilt ist, dass niemand in Nachschnitten diese Bilder drucken oder gedruckt innerhalb des Reichsgebietes verkaufen darf. Solltest Du aber in Missachtung oder aus verbrecherischer Habgier zuwider handeln, sei versichert, dass Du nach Konfiskation deines Besitzes mit der schärfsten Strafe rechnen musst!“ Das formulieren heute von „Piraten“ provozierte und empörte Autoren und Urheber sehr viel vorsichtiger; zum Beispiel im Aufruf von Schriftstellern, Autoren und Filmemachern zum Schutz von Ideen „Mein Kopf gehört mir“: „Auch künftig muss, wer immaterielle Werte schafft, entlohnt werden. Eine Gesellschaft, die ihre Kreativen vernachlässigt, beraubt sich der Zukunft.“ Dieser Text ist gerade ein paar Wochen alt, inhaltlich völlig richtig, aber vergleichsweise ‚schlapp‘ formuliert.

Meine Damen und Herren, es gab in der Frühen Neuzeit eine Reihe durchaus unterschiedlicher Formen der Kunstfinanzierung: die mäzenatische Förderung, ein zeitlich befristetes oder dauerhaftes Anstellungsverhältnis bei Hofe oder bei der Stadt, konkrete Aufträge für Bilder und Druckwerke unterschiedlichster Art und zunehmend eben auch den freien Markt. Dürer war auf all diesen Geschäftsfeldern tätig und erfolgreich; er war ein glänzender Vermarkter seines Wertes. Kunstagenten verkauften in seinem Auftrag überall in der Welt seine Grafiken und sorgten für die Verbreitung seines Œuvres. Aufträge der Stadt waren lukrativ, und finanzielle Sicherheit bot ein Jahresgehalt des Kaisers sowie dessen Privilegien, die seine Werke schützten. Übrigens, wenn ich das richtig nachgelesen habe: Dürer hat für die Ausmalung bzw. für die Neuausstattung des Rathauses in Nürnberg zehn Jahre investiert, das ist eine vergleichsweise lange Zeit, jedenfalls deutlich länger als Norman Foster beim Reichstagsgebäude in Berlin hatte. Allerdings war der Nürnberger Saal wiederum nicht nur Versammlungs- und Tagungsort, sondern er war auch Gerichts- und Tanzsaal, da sind die Ansprüche an den Plenarsaal in Berlin natürlich deutlich bescheidener.

Heute, meine Damen und Herren, leben wir in einem Staat, der sich als Kulturstaat versteht, der ca. 90 Prozent aller originären Kunst- und Kulturförderung aus öffentlichen Kassen leistet. Das ist beachtlich und übrigens natürlich auch keineswegs die Regel. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Der Satz wird Ihnen bekannt vorkommen, er findet sich im Artikel 20 unseres Grundgesetzes. Dieses Grundgesetz verpflichtet den deutschen Staat ausdrücklich auf die Prinzipien der Demokratie, auf den Sozialstaat, den Rechtsstaat und den Bundesstaat. Vom Kulturstaat ist in diesem Zusammenhang keine Rede; mindestens insoweit hat die politische Praxis die Verfassungstheorie längst überholt, zumindest eingeholt. Denn darüber besteht in diesem Land, schon gar im Freistaat Bayern, Herr Ministerpräsident, aber auch in anderen Teilen unseres vereinigten Vaterlandes, nicht der Hauch eines Zweifels: Der Staat hat eine unverzichtbare, nicht kompensierbare, aber ganz sicher keine exklusive Verantwortung für die Kultur dieses Landes und dieser Gesellschaft. Der Staat ist nach unserem Staats- und Kulturverständnis nicht für Kunst und Kultur zuständig, er hat keine materielle Zuständigkeit für die Inhalte und die Formen, in denen sich Kunst und Kultur in einer freien Gesellschaft entfalten. Aber er hat eine originäre und auch nicht ersetzbare Verantwortung für die Bedingungen, unter denen eine solche Entfaltung von Künsten überhaupt möglich ist.

Nirgendwo, meine Damen und Herren, in keinem anderen Bereich unserer Gesellschaft ist die Distanz zum Staat so groß und so demonstrativ und zugleich die Erwartung der Alimentierung so ausgeprägt wie in der Kunst und Kultur. Das scheint intellektuell weder besonders zwingend, noch moralisch von bestechender Größe, ist aber eine weitverbreitete Attitüde, die ihrerseits beinahe kunstvoll genannt werden könnte. Worauf es aber allein ankommt: Sie ist berechtigt. Die Kunst hat einen Anspruch gegenüber dem Staat, soweit er denn Kulturstaat sein will, nicht aber der Staat gegenüber der Kunst und Kultur. Anders formuliert: Der Kunst kann der Staat egal sein, dem Staat die Kunst nicht, und die Kultur schon gar nicht.

Es gibt gewiss viele Kulturnationen, große Kulturnationen, aber es gibt nur wenige Staaten, die wie die Bundesrepublik Deutschland Kunst und Kultur absolut und relativ so stark aus öffentlichen Kassen fördern. Das gilt sowohl für den Bund wie insbesondere für die Länder und die Gemeinden, Gott sei Dank, wie ich hinzufüge. Dies ist nur verständlich und erklärbar vor dem Hintergrund einer Jahrhunderte alten Geschichte, in der sich der Föderalismus, der damals noch nicht so hieß, im konkurrierenden Repräsentationsaufwand rivalisierender Fürstenhäuser niederschlug, einem Föderalismus, der die Vielzahl, die Breite und die Qualität der Kunst- und Kultureinrichtungen in Deutschland, die wir – im besten Sinne des Wortes – geerbt haben und wiederum meist vorschnell für selbstverständlich halten, erst möglich gemacht hat. Gegenwärtig werden in Deutschland Jahr für Jahr etwa 9,5 Milliarden Euro als öffentliche Kulturfinanzierung aufgebracht. Von diesen entfällt der Löwenanteil auf die Kommunen und die Länder, die zusammen mehr als 85 Prozent der öffentlichen Mittel in Deutschland aufbringen, während der Bund seinerseits gut 13 Prozent dieser Kosten trägt; dazu kommen allerdings noch weitere 1,5 Milliarden Euro an Bundesmitteln für Projekte und Programme der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik, für die er im Unterschied zu den anderen Aufgaben, die er wahrnimmt, auch eine verfassungsrechtliche Kompetenz hat – ein Thema, das ich jetzt nicht vertiefe.

Die gerade vorgetragenen Größenordnungen sind in doppelter Weise relativ. Denn das ist zwar viel Geld, bezogen aber auf unser Land, die Anzahl der Einwohner und das Sozialprodukt durchaus überschaubar: Pro Einwohner gibt dieser Staat Jahr für Jahr gut 100 Euro für Kunst- und Kulturförderung aus. Der Anteil der Kunst- und Kulturförderung an den öffentlichen Haushalten beträgt damit weniger als ein Prozent beim Bund, weniger als zwei Prozent bei den Ländern und etwas mehr als zwei Prozent bei den Gemeinden. Gemessen an unserem Bruttoinlandsprodukt reden wir über einen Anteil von etwas unter 0,4 Prozent. Das sind, meine Damen und Herren, jedenfalls nicht Größenordnungen, die Kunst- und Kulturliebhaber spontan ins Schwärmen bringen, aber es sind auch nicht Größenordnungen, die Kämmerer und Finanzminister in Depressionen stürzen müssten. Jedenfalls macht jeder Blick auf die gerade genannten Größenordnungen völlig klar: Die zweifellos notwendige Konsolidierung der öffentlichen Haushalte kann über Kürzungen in Kulturetats nicht erfolgen. Denn dafür sind die Kulturetats zu klein und ihre Bedeutung zu groß.

Meine Damen und Herren, Zweck der Kunst- und Kulturförderung ist es, zumindest nach meinem Verständnis, Angebote zu ermöglich, für die es keine Nachfrage, jedenfalls keine finanzkräftige Nachfrage gibt, und gleichzeitig die Nachfrage zu beleben, ohne die es keine neuen Angebote an Musik, Literatur und bildender Kunst gäbe.

„Kunst ist Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein.“ Der Satz, Sie ahnen es, ist wieder nicht von mir, sondern von Theodor W. Adorno. Albrecht Dürer ist einer der ganz großen Meister dieser Magie der Kunst, die von der Lüge befreit, ohne die Wahrheit zu kennen, weil sie ahnt, dass es sie nicht gibt. Darüber zu reden macht keinen Sinn, aber man kann es sehen, wenn man will und dafür eine so grandiose Gelegenheit bekommt wie in dieser Ausstellung.

Vielen Dank!


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