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Festrede anlässlich des 10-jährigen Jubiläums der Kulturstiftung des Bundes
Am 22. Juni 2012 in Halle (Saale)

Sehr geehrter Ministerpräsident, Staatsminister, Frau Oberbürgermeisterin,
liebe aktive und ehemalige Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten und Regierungen des Bundes und der Länder,
liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter des Stiftungsrats der Kulturstiftung und Bundes,
liebe Frau Völckers, lieber Herr Farenholtz,
lieber Durs Grünbein,
verehrte Gäste!

Zu Beginn dieser Woche hat das Bundesverfassungsgericht einmal mehr klargestellt, welche Kompetenzen Legislative und Exekutive in unserer Verfassungsordnung haben, und dass die Regierung das Parlament weder ersetzen kann noch verdrängen darf.

Das gilt selbstverständlich auch in umgekehrter Richtung. Auch aus diesem Grunde kann ich die Bundeskanzlerin nicht ersetzen und kaum vertreten. Zumal ich keine Richtlinienkompetenz habe, die es in der Kulturpolitik glücklicherweise auch nicht gibt. Deswegen werde ich auch keine Festrede vortragen, sondern eine politische Intervention, die vermutlich das von Durs Grünbein vorgegebene ästhetische Niveau nicht hält, aber – wenn es gut geht – beiträgt zur Selbstverständigung über den Stellenwert von Kultur in unserer Gesellschaft zwischen Kulturstaat und Bürgerinitiative. Ich werde im folgenden einige der Fragen aufgreifen, die Durs Grünbein vorhin genannt hat, aber nicht behandeln wollte. Und da ich im Unterschied zu ihm nicht „für Gedichte bestellt“ bin, habe ich zehn Kurzinterventionen mitgebracht, bei denen in jeder einzelnen auch von der Kulturstiftung des Bundes die Rede sein wird, obwohl ich über sie nicht sprechen werde.

1.
Es gibt viele große Kulturnationen. Aber es gibt nur wenige Staaten, die für Kunst und Kultur absolut und relativ so viele Mittel einsetzen wie Bund, Länder und Gemeinden in Deutschland. Über 90 Prozent der Kulturausgaben – jedenfalls in einem anspruchsvollen Verständnis von Kultur – werden aus staatlichen Haushalten aufgebracht. Weniger als 10 Prozent von Privatpersonen, gemeinnützigen Organisationen und Sponsoren, deren Beitrag zur Finanzierung von Aktivitäten und Initiativen hochwillkommen und in manchen Fällen auch dringend erforderlich ist, deren Anteil an der Gesamtfinanzierung der deutschen Kulturszene inzwischen aber maßlos überschätzt wird. In absoluten Beträgen stellen die öffentlichen Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden gegenwärtig etwa 9,5 Milliarden Euro für Kunst- und Kulturförderung in Deutschland zur Verfügung, dazu kommen noch einmal etwa 1,5 Milliarden für auswärtige Kulturpolitik, also für die Vermittlung deutscher Kunst und Kultur im Ausland. Das ist eine Menge Geld, aber durchaus übersichtlich, denn umgerechnet auf die Köpfe dieses Landes sind das gerade mal rund 130 Euro pro Jahr, die sich im Übrigen, der Ministerpräsident hat es angedeutet, in einer auch verfassungsrechtlich begründet sehr unterschiedlichen Weise auf die Länder und Gemeinden und den Bund verteilen. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch ein Blick auf die Kulturausgaben pro Kopf in den verschiedenen Bundesländern, die ein bemerkenswertes Süd-Nord- und Ost-West-Gefälle erkennen lassen, das mit der Größe und Wirtschaftsstärke der jeweiligen Bundesländer ganz offenkundig nicht und schon gar nicht alleine zu erklären ist.


2.
Öffentliche Ausgaben müssen sich rechtfertigen. Kulturausgaben auch – ganz selbstverständlich. Zur Konsolidierung öffentlicher Haushalte sind Kulturetats dagegen völlig ungeeignet. Dafür ist ihr Anteil an den Gesamtausgaben zu gering und ihre Bedeutung zu hoch. Relativ zu den Gesamtausgaben der öffentlichen Haushalte betragen die Kulturausgaben in Deutschland 1,7 Prozent: etwas weniger als 1 Prozent beim Bund, etwas weniger als 2 Prozent bei den Ländern, etwas mehr als 2 Prozent bei den Gemeinden. Der Anteil der Kulturausgaben in diesem gerade vorgetragenen Sinne an unserem Bruttoinlandsprodukt beträgt überschaubare 0,4 Prozent. Das ist jedenfalls keine Größenordnung, bei der Künstler und Kulturfreunde in eine geradezu psychedelische Stimmung geraten, und es ist eben auch keine Größenordnung, bei der Kämmerer und Finanzminister ernsthaft in Depressionen verfallen.

3.
Kultur ist ein Standortfaktor, längst als solcher herauf- und herunterdiskutiert. Die Attraktivität von Städten und Regionen stützt sich immer stärker auf ihre Kunst- und Kulturszene, nicht nur für Touristen, sondern vor allem für die Menschen, die dort leben und arbeiten. Nimmt man die öffentlichen, privatwirtschaftlichen und gemeinnützigen Aktivitäten zusammen, erzielt der Kultursektor in Deutschland nach einer Schätzung des Arbeitskreises ‚Kulturstatistik’ pro Jahr eine stolze Wertschöpfung von weit über 30 Milliarden Euro. Das ist ziemlich genau die Größenordnung der Energie-Versorgung in Deutschland und weit mehr als klassische Wirtschaftsbranchen wie Landwirtschaft, Bergbau oder auch Stahlindustrie.
Kultur, meine Damen und Herren, rechnet sich! Alle einschlägigen ökonomischen Studien belegen den Zusammenhang von Kultur und Wirtschaftswachstum. Die Ausgaben für Kunst und Kultur fließen direkt und indirekt in die jeweilige heimische Wirtschaft zurück. Aber gerade weil dies inzwischen häufig empirisch belegt worden ist, füge ich ausdrücklich hinzu: ein Staat, der Kulturförderung nur noch als eine besondere Form der Wirtschaftsförderung missversteht, bleibt weit hinter den Ansprüchen zurück, die ein Kulturstaat für sich in Anspruch nehmen muss.

4.
Kunst- und Kulturförderung ist eine öffentliche Aufgabe, jedenfalls in Deutschland. Sie ist eine Gemeinschaftsaufgabe von Bund, Ländern und Gemeinden. Und dieses ganz unangefochtene Verständnis einer Gemeinschaftsaufgabe öffentlicher Hände würde es in dieser Form vermutlich nicht geben, wenn es nicht durch die komplizierte deutsche Geschichte über Jahrhunderte so gewachsen wäre, die über eine beinahe unübersehbare Zahl von Klein- und Kleinststaaten erst spät zum Nationalstaat gefunden hat. Vielleicht auch deshalb gibt es in regelmäßigen Abständen neue Diskussionen über die vermeintlich dringliche Entflechtung von Zuständigkeiten. Die Föderalismusreformkommissionen der letzten Jahre haben in diesem Zusammenhang einen besonders zweifelhaften Beitrag geleistet. Jedenfalls ist ein Jubiläum wie dieses ein guter Anlass, mit nüchternem Blick darüber nachzudenken, ob eine solche Entflechtung nicht nur gut gemeint, sondern auch wirklich durchdacht ist. Dass am Ende einer erfolgreichen Entflechtung der Zuständigkeiten zur Förderung von Kunst und Kultur mehr Geld als bisher zur Verfügung stünde, ist jedenfalls eine treuherzige Vorstellung, die weder durch die Verfassungslage noch durch die Haushaltslage von Bund und Ländern gedeckt ist. Der Streit, der gelegentliche, immer mal wieder angezündete Streit zwischen Bund und Ländern um die sogenannte Kulturhoheit ist auch deshalb abwegig, weil das Verständnis des Staates von Kunst und Kultur kaum missverständlicher ausgedrückt werden könnte, als durch diesen Begriff selbst. Ein Staat, der Kunst und Kultur mit hoheitlicher Gebärde begegnet, ist sicher kein Kulturstaat.


5.
Es wäre schön, wenn sich der verfassungsrechtlich in der Tat besonders begründete Ehrgeiz der Länder in der Förderung von Kunst und Kultur wieder stärker in einem Aufgabenfeld niederschlagen würde, in dem die Zuständigkeiten wie die Verantwortung der Länder völlig unbestritten und zunehmend unverzichtbar ist: der Kulturellen Bildung. Die Vermittlung von Grundlagen und Interesse an bildender Kunst und Musik, wenn eben möglich auch die Motivation zur eigenen aktiven künstlerischen Betätigung, ist in den deutschen Schulen längst notleidend geworden. Der allgemein beklagte Unterrichtsausfall ist in den musischen Fächern nahezu überall außerordentlich hoch. Immer häufiger wird der Unterricht fachfremd erteilt, was im Übrigen schon als Errungenschaft ausgewiesen wird, weil er wenigstens stattfindet, wenn etwa der Sportlehrer sich bereit erklärt hat, mit einer wiedergefundenen Mundharmonika ausgestattet, den Musikunterricht zu erteilen. Immer häufiger findet ein Unterricht statt ohne die unbestrittene Professionalität, die in den geistes- und naturwissenschaftlichen Fächern für völlig unverzichtbar gehalten wird. Für den Umgang mit Kunst und Kultur gilt aber natürlich in genau der gleichen Weise wie in der Physik und der Chemie, dass ohne Kenntnis auch kein Verständnis und ohne Motivation auch kein Engagement zu erreichen ist. Wenn jedoch bei Kindern und Jugendlichen das Interesse an Kunst und Kultur nicht nachwächst, dann vermindert sich unvermeidlicherweise in Zukunft sowohl das Angebot wie die Nachfrage für die künstlerischen Berufe sowie in großen und kleinen Kultureinrichtungen, deren Bestand keineswegs nur durch die aktuellen Haushaltsprobleme ihrer Träger gefährdet ist. Meiner festen Überzeugung nach ist der große und bunte Garten der Kulturlandschaft in Deutschland weniger in seinen Blüten bedroht als in seinen Wurzeln.

6.
Der Staat der Staat ist nicht für Kunst und Kultur zuständig, sondern für die Bedingungen, unter denen sie stattfinden und sich entfalten können. Und das ist eben nicht dasselbe. Die wichtigste Aufgabe des Staates gegenüber Kunst und Kultur ist nicht die finanzielle Förderung, sondern die Sicherung freier Entfaltungs- und Gestaltungschancen. Während finanzielle Mittel nicht nur durch staatliche Haushalte aufgebracht werden können, wenngleich aber überwiegend aufgebracht werden müssen, der Staat also insoweit prinzipiell ersetzbar ist, kann die Gewährleistung von freien Arbeitsbedingungen nur durch den Staat erfolgen. Kunst hat keinen Zweck. Wofür auch immer sie in Anspruch genommen wird, ist nicht wesentlich. Sie mag einen Zweck erfüllen, den sie nicht hat. Nur zweckfrei erfüllt sie ihren Zweck. Deshalb ist die vielleicht wichtigste einzelne Qualifikation von Kulturpolitikern die Einsicht in die eigene Bedeutungslosigkeit und die Souveränität, hartnäckig und fröhlich daran zu arbeiten, dass andere die Bedingungen für die Entfaltung ihrer kreativen Möglichkeiten vorfinden. Welche Gedichte und Romane geschrieben, wie Theater und Opern inszeniert, Bilder gemalt und Ausstellungen konzipiert werden, geht die Politik nichts an. Sie hat mit Urheberrecht zu tun, nicht mit Literatur. Mit Künstlersozialversicherung, nicht mit bildender Kunst. Der Zweck der Kulturpolitik ist Kultur, nicht Politik.

7.
Nirgendwo, in keinem anderen Bereich der Gesellschaft, ist die Distanz zum Staat so groß und so demonstrativ und zugleich die Erwartung der Alimentierung durch den Staat so ausgeprägt wie in der Kunst und Kultur. Das scheint intellektuell weder besonders originell noch moralisch von bestechender Größe, ist aber eine weit verbreitete Attitüde. Worauf es aber allein ankommt: Sie ist berechtigt. Die Kunst hat einen Anspruch gegenüber dem Staat – soweit er ein Kulturstaat sein will – nicht aber der Staat gegenüber Kunst und Kultur. Mit anderen Worten: Der Kunst kann der Staat egal sein. Dem Staat die Kunst nicht – und die Kultur schon gar nicht.


8.
Es bleibt schwierig. Politik und Kunst sind keine natürlichen Zwillinge. Ihr Verhältnis gilt allgemein als schwierig. Es muss geradezu gespannt sein, um nicht unter Verdacht zu geraten. Völlig unabhängig von wechselseitigen Sympathien oder Antipathien beteiligter Künstler und Politiker geht es im Kern um die Unvereinbarkeit der jeweiligen Orientierung. Die Politik muss zu Kompromissen bereit und in der Lage sein, die Kunst nicht. Die Kunst riskiert mit der Bereitschaft zum Kompromiss ihre innere Legitimation, die die Politik umgekehrt verspielt, wenn sie im ideologischen Eifer ihre Fähigkeit zum Konsens durch Relativierung von Interessen verliert. Politik ist nicht mit ästhetischen Kriterien zu organisieren. Die Kunst dagegen kann nicht nach politischen Gesichtspunkten stattfinden. Bemühungen, sich über diese eigenen Gesetzlichkeiten hinwegzusetzen, führen fast zwangsläufig zu offener oder verdeckter Zensur, Propaganda und/oder Protektion, für die es auch und gerade in der jüngeren deutschen Geschichte viele abschreckende Beispiele gibt.

9.
In einer modernen Gesellschaft wächst der Bedarf an Kunst und Kultur und offensichtlich das Interesse daran. Nie waren Angebot und Nachfrage so breit wie heute, obwohl die Ernsthaftigkeit sowohl bei Anbietern als auch bei Nachfragern, bei Konsumenten wie bei Produzenten nicht immer über jeden Zweifel erhaben ist. Kunst muss sich weder über Märkte organisieren noch durch Preise als Maßstab der Bewertung definieren. Aber nicht alles, was sich nicht rechnet, ist deshalb große Kunst. Und das große Publikumsinteresse an Festivals und Premieren ist auch offensichtlich nicht immer und nur allein der Kunst geschuldet. Der große öffentliche Jubel bestätigt ebenso wenig den Rang eines Kunstwerkes, wie umgekehrt die breite Ablehnung seine Bedeutung widerlegt. Die Kunst ist frei – und individuelle Meinung über sie auch. Es gibt nicht nur eine Anmaßung der Politik gegenüber der Kunst. Es gibt gelegentlich auch eine Anmaßung ausgewiesener und selbsternannter Kunstsachverständiger gegenüber der Öffentlichkeit, das eigene ästhetische Urteil für das einzig mögliche zu erklären. Die wechselseitige Bereitschaft zur Toleranz, zur Achtung vor dem Urteilsvermögen und der Entscheidungsfreiheit des Anderen hebt das Spannungsverhältnis von Kunst und Politik nicht auf, aber macht es erträglich und manchmal aber sogar ertragreich.

10.
Über den Stellenwert von Kunst und Kultur für eine moderne Gesellschaft wird schon gar in Deutschland gern und gelegentlich mit fundamentalistischem Eifer gestritten. Nach den Beobachtungen des früheren britischen Intendanten der Bayrischen Staatsoper, Sir Peter Jonas, muss „in einem Land wie England Kunst Entertainment sein, sie muss ein gesellschaftliches Ereignis sein. In Frankreich muss sie eine gewisse Kulinarik haben, eine Pompösität und ein bisschen Grandezza. In Deutschland muss die Kunst ernst sein, ein Konzept haben, muss intellektuell logisch sein und sie sollte interpretieren.“ Welche Kultur wir brauchen ist jedenfalls nicht hoheitlich zu beantworten. Aber dass wir Kunst und Kultur brauchen, der Staat und die Gesellschaft, und dass sie jeweils ihre eigene Verantwortung haben, und dass wir nur dann ein Kulturstaat sind, wenn wir als Bürgergesellschaft diese Verantwortung übernehmen – wir alle –, darüber gibt es keinen Zweifel.

Die Kulturstiftung des Bundes hat in ihren zehn Jahren seit ihrer Gründung einen besonderen Beitrag dazu geleistet, solche Zweifel auszutreiben. Dazu dürfen wir ihr gratulieren – und uns auch.


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