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Rede im Rahmen des Symposiums „Religion im öffentlichen Raum“
Am 23. Februar 2013 in Augsburg

Sehr geehrter Herr Landesbischof, lieber Herr Professor Weber,
meine Damen und Herren,

ich bedanke mich sehr für die freundliche Einladung und die besonders liebenswürdige Begrüßung. Dass ich der Lieblingspolitiker der deutschen Bischöfe sei, war mein Eindruck bislang nicht. Aber nachdem dies jetzt in Ihrem Protokoll verzeichnet ist, macht allein das schon den Besuch lohnend. In der Tat aber sind mir das Thema und die Erwartungen und Ansprüche, die damit verbunden sind, wichtig. Die eigentliche Relevanz des Themas beginnt freilich erst jenseits dieser unverbindlichen Auskunft, weil sich aus allgemeinen Feststellungen durchaus unterschiedliche Schlussfolgerungen ziehen lassen und damit Auseinandersetzungen unvermeidlich machen, vor denen man sich dann nicht drücken darf. Ich bin offen gestanden auch deshalb gekommen, weil ich mit Ihnen gerne über Wahrnehmungen reden möchte, die Sie mit dem Thema und den darin angesprochenen Zusammenhängen verbinden. Nun vermute ich aber, dass es gleichwohl so sein könnte, dass der eine oder andere von Ihnen wissen möchte, was ich denn nun über das Thema denke. Deswegen habe ich mir vorgenommen, einige Punkte, die mir in diesem Zusammenhang wichtig erscheinen, etwas thesenartig und ein bisschen zugespitzt vorzutragen, wobei ich von vornherein darauf aufmerksam machen möchte, dass nach meinem Verständnis nichts davon wirklich originell ist. Ich persönlich glaube ohnehin, dass es bei diesem Thema weniger darauf ankommt, etwas Neues herauszufinden, sondern eher darauf, gefestigte Einsichten und Einschätzungen in einer Weise neu zu sortieren, so dass sie zu praktischen Schlussfolgerungen führen, die mir zu selten stattfinden.

Meine Ausgangsfrage könnte lauten: wie viel Religion erträgt eine moderne, aufgeklärte, liberale Gesellschaft? Und die nach meinem Verständnis sofort dazu gehörige Frage lautet: wie viel Religion braucht eine demokratisch verfasste Gesellschaft? Beide Fragen sind ebenso schwierig wie wichtig. Auf den ersten Blick schließen sie sich beinahe aus, nach meinem Verständnis aber sind sie unabhängig voneinander nicht zu beantworten.

Meine erste Bemerkung zu diesem Thema lautet: Politik und Religion sind zwei unterschiedlich bedeutende, formell oder informell mächtige, rechtlich oder faktisch bindende Gestaltungsansprüche gegenüber einer Gesellschaft und ihren Mitgliedern. Sie können einander nicht gleichgültig sein, aber sie sind gewiss nicht identisch. Die Unterschiede zwischen diesen beiden Gestaltungsansprüchen sind nicht weniger bedeutsam als die Gemeinsamkeiten. Ich will das, was ich hier mit Unterschieden und Gemeinsamkeiten meine, mit zwei, nicht repräsentativ, aber auch nicht völlig willkürlich herausgegriffenen, ganz unterschiedlichen Zitaten verdeutlichen. Dietrich Bonhoeffer schreibt in seinem Aufsatz „Was ist Kirche?“: „Die Kirche ist die Grenze der Politik, darum im eminenten Sinn politisch und apolitisch zugleich.“ Das zweite Zitat wird Abraham Lincoln zugeschrieben: „Politik ist der umsichtige Einsatz persönlicher Bosheit für das Gemeinwohl.“ Das kann man theoretisch anspruchsvoller formulieren, aber nur schwer prägnanter.

Die etwas anspruchsvollere Formulierung versuche ich in meiner zweiten Bemerkung zu vermitteln: Religionen handeln von Wahrheiten, Politik von Interessen. Das eine ist so zentral wie das andere, und beides ist offenkundig grundverschieden. Zu den Ergebnissen – die meisten von uns werden vermutlich auch sagen Errungenschaften – unserer aufgeklärten Zivilisation gehört die Einsicht in die Aussichtslosigkeit einer abschließenden Beantwortung der Wahrheitsfrage. Diese Einsicht macht Politik nötig und Demokratie möglich. Auf der Basis absoluter Wahrheitsansprüche ist Demokratie als Legitimation von Normen durch Verfahrensregeln gar nicht möglich. Demokratie setzt die Trennung von Religion und Politik voraus, die es allerdings ohne religiös vermittelte Überzeugungen von der Unantastbarkeit der Würde jedes einzelnen Menschen gar nicht gäbe, was wiederum die Komplexität zwischen Zusammenhängen und Unterscheidungen verdeutlicht.

Dritte Bemerkung: Der legitime Gestaltungsanspruch der Politik wird in der Regel durch Verfassungen definiert, die ihrerseits Ausdruck der Überzeugungen, Orien-tierungen und Prinzipien sind, die in einer Gesellschaft Geltung beanspruchen. Ich halte es aber für eines der vielen, leider weit verbreiteten Missverständnisse unserer Zeit, ausdrücklich oder implizit zu vermuten, dass das, was früher einmal die gefestigte gemeinsame kulturelle Überzeugung einer Gesellschaft war, heute von Verfassungen abgelöst sei. Man brauche das eine nicht mehr, weil es jetzt ja das andere gäbe. Und das, was in einer Gesellschaft Geltung habe, sei, werde und müsse abschließend in einer Verfassung niedergeschrieben sein. Das ist sicher nicht falsch, unterschlägt aber, dass Verfassungen nie Ersatz für, sondern immer Ausdruck von Überzeugungen sind, die in einer Gesellschaft Geltung bean-spruchen. Es wäre eine vertiefte Diskussion nicht nur zulässig, sondern notwendig, dass jeder gründliche Blick auf moderne wie auf traditionelle Gesellschaften zu dem Befund kommt, dass der innere Zusammenhalt einer Gesellschaft immer durch Kultur gestiftet wird und durch nichts anderes. Märkte halten Gesellschaften nicht zusammen, Geld schon gar nicht, auch Politik nicht. Politik auch nicht im Sinne eines rechtlich verbindlichen Regelsystems, denn dieses Regelsystem entfaltet seine Plausibilität wiederum nur aus den Kontexten, die ihrerseits nicht politisch, sondern kulturell sind. Insofern könnte man mit einer gewissen Berechtigung darüber nachdenken, ob jedenfalls unter diesem Gesichtspunkt der Unterschied zwischen traditionellen und modernen Gesellschaften wirklich so fundamental ist, wie gelegentlich behauptet wird. Inneren Zusammenhalt stiften kulturelle Überzeugungen. Oder umgekehrt: Wenn dieses Mindestmaß an kulturellen Gemeinsamkeiten verlorengeht, erodiert der Zusammenhalt einer Gesellschaft. Wobei die Frage, warum er verloren geht, eher zweitrangig ist, weil die Wirkung nicht von den Motivationen, sondern von den Rahmenbedingungen abhängig ist.

Sie kennen alle die berühmte, beinahe zu Tode zitierte Bemerkung von Ernst Wolfgang Böckenförde, die ich nur deswegen überhaupt nochmal in diesen Zusammenhang ausführen möchte, weil bedauerlicherweise immer nur der erste Satz zitiert wird: „Der freiheitliche säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Was genau den eben angesprochenen Zusammenhang bestätigt. Und Böckenförde fährt fort: „Das ist das große Wagnis, das er um der Freiheit willen eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des Einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft reguliert. Andererseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren versuchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“ (Staat, Gesellschaft, Freiheit. 1976, S. 60) Wenn man diesen Zusammenhang betrachtet, ist da mehr Explosivstoff drin als in dem längst kanonisierten Eingangssatz, der keinen Streit mehr auslöst, weil alle andächtig nicken und sagen, ja so ähnlich ist es wohl. Ich komme nachher noch einmal auf den Punkt zurück, wie es denn um diese Homo-genitätsvermutung bestellt ist.

Vierte Bemerkung: Für die allgemeine Behauptung, dass der innere Zusammen-halt jeder Gesellschaft nicht durch Politik schon gar nicht durch Wirtschaft, sondern durch Kultur gestiftet wird und dass Verfassungen nie Ersatz für, sondern immer Ausdruck von kulturellen Überzeugungen einer Gesellschaft sind, ist das Grundgesetz ein besonders prominentes, prägnantes, schwer überbietbares Beispiel. Das Grundgesetz ist – schon gar, wenn man seinen einleitenden Teil von der Präambel über den Katalog der Grundrechte liest, bis es sich dann in die zum Teil grotesk detaillierten Einzelregulierungen verliert – ein hoch ideologischer, tief religiös geprägter Text, mit einer Reihe normativer Ansprüche für die Gestaltung einer modernen Gesellschaft. Bereits das in der Präambel reklamierte Bewusstsein der Verantwortung vor Gott und den Menschen muss nicht in einer Verfassung stehen – steht aber in unserer Verfassung. Und dass der nicht nur erste, sondern nach Übereinstimmung aller Verfassungsexegeten auch höchste, zentrale Satz unserer Verfassung: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, nicht einen empirisch gesicherten Sachverhalt wiedergibt, sondern wenn überhaupt, dann aus der entgegengesetzten Erfahrung eine Norm herleitet, begründet eine der erstaunlichsten, eindrucksvollsten und spektakulärsten Verfassungsversionen, die wir überhaupt kennen. Würden Verfassungen nicht überzeugen wollen, sondern nur Erfahrungen wiedergeben, müsste der Satz eigentlich lauten „Die Würde des Menschen ist angreifbar“ – ein Nachweis, der nirgendwo gründlicher geführt worden ist als in unserer Geschichte. Weil wir jedoch wissen, dass es genau so war, erklären wir in unserer Verfassung, dass es umgekehrt sein muss. Das ist im Übrigen natürlich auch der Grund, warum eine so bedeutende, kluge und einflussreiche Persönlichkeit wie Jürgen Habermas zum Erstaunen eines beachtlichen Teils seines „Fanclubs“, der sich bis heute davon noch nicht so ganz erholt hat, spätestens seit seiner berühmten Dankesrede bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, immer wieder auf die Bedeutung von religiösen Überzeugungen für das Selbstverständnis und die innere Stabilität moderner Gesellschaften verweist. In seiner Aufsatzsammlung „Zwischen Natura-lismus und Religion. Philosophische Aufsätze“, veröffentlicht bei Suhrkamp im Jahre 2005, schreibt er: „Religiöse Glaubensüberlieferungen und religiöse Glaubensgemeinschaften haben seit der Zeitenwende von 1989/90 eine neue bis dahin nicht erwartete politische Bedeutung gewonnen.“ Er gelangt zu der Feststellung, dass die Bedeutung der Religion und ihre politische Inanspruchnahme auf der ganzen Welt gewachsen sei. Deshalb erscheine, welthistorisch betrachtet Max Webers okzidentaler Rationalismus als der eigentliche Sonderweg. So gelangt er zu der für manche erstaunlichen Schlussfolgerung: „Der liberale Staat darf die gebotene institutionelle Trennung von Religion und Politik nicht in eine unzumutbare mentale und psychologische Bürde für seine religiösen Bürger verwandeln.“ Allerdings müsse er von ihnen die Anerkennung des Prinzips der weltanschaulich neutralen Herrschaftsausübung erwarten. „Jeder muss wissen und akzeptieren, dass jenseits der institutionellen Schwelle, die die informelle Öffentlichkeit von Parlamenten, Gerichten, Ministerien und Verwaltungen trennt, und zu der er in diesem Zusammenhang eben auch Religion und Kirchen, aber ebenso Überzeugungen rechnet, nur säkulare Gründe zählen.“ Das gleicht einem intellektuellen Spagat auf dem Hochtrapez. Aber genau da befinden wir uns gewissermaßen, kultur- und zivilisations-geschichtlich betrachtet: Wir haben eine Trennung vorgenommen, die auch ich für unaufgebbar halte und die es ohne jene Kulturgeschichte gar nicht gäbe, die dieser Trennung vorausgegangen ist, eine Trennung, deren Relevanz und Stabilität ohne die Lebendigkeit dieser kulturellen Zusammenhänge auch schwerlich zu erklären ist. Gerade unter diesem Gesichtspunkt wirkt die souveräne Schlussfolgerung eines gerade religiös ungebundenen Beobachters und Kommentators wie Jürgen Habermas umso nachdrücklicher, dass auch und gerade der säkulare Staat sich den genannten Quellen der Sinnstiftung nicht versperren darf.

Fünfte Bemerkung: Aus westlicher Perspektive erscheint die Säkularisierung als der unvermeidliche Preis der Moderne. Weltweit aber sind die Religionen nie aus der Politik verschwunden. Wir erleben vielmehr nicht nur eine erstaunliche globale Revitalisierung der Bedeutung von Religionen im öffentlichen Raum. Wir erleben auch eine bemerkenswerte, teilweise erschreckende Politisierung und Instrumentalisierung von Religion mit fundamentalistischen Ansprüchen. Wir haben es heute also, etwas idealtypisch gesprochen, mindestens mit zwei sehr unterschiedlichen Formen von Religiosität in Zeiten der Globalisierung zu tun. Die eine ist die persönliche Religiosität im Rahmen respektierter rechtsstaatlicher Demokratie als ein geschützter Raum persönlicher Entfaltung, und das andere ist die politisierte Religion mit fundamentalistischen Machtansprüchen, die inzwischen eine bemerkenswerte „Ausdehnung weltweit“ erreicht hat.

In diesem Zusammenhang will ich, ohne das im Einzelnen auszuführen und abschließend beurteilen zu wollen, auf ein Dilemma aufmerksam machen, das sich zunehmend dort auftut, wo die Revitalisierung von Religion im öffentlichen Raum mit dem gleichzeitigen Anspruch auf Liberalisierung und Demokratisierung traditioneller Gesellschaften verbunden ist. Es hat für die vor zwei Jahren zuerst in Tunesien, dann in Ägypten und schließlich mit einer scheinbar unwiderstehlichen Kettenreaktion in den nordafrikanischen arabischen Staaten einsetzenden Entwicklung, die bis heute anhält, sehr früh den Begriff vom arabischen Frühling gegeben. Auf diesen Begriff wäre man vermutlich nicht gekommen, wenn sich damit nicht die treuherzige Vorstellung verbunden hätte, dass auf einen frühen Frühling ein strahlender Sommer folgt. Inzwischen gibt es manche Indizien dafür, dass der Sommer ausfällt und wir uns dort längst in einem stürmischen Herbst befinden, der schnell auch in einen kalten Winter umschlagen könnte. Jedenfalls, ohne jetzt diese Spekulation fortführen zu wollen, wird an dieser Stelle fast paradigmatisch das Dilemma deutlich, das sich aus dem absoluten Wahrheitsanspruch von Religion einerseits und dem Liberalisierungsanspruch mit dem Ziel der Etablierung demokratischer statt autoritärer Strukturen andererseits ergibt, das aber nur dann eingelöst werden kann, wenn niemand Wahrheitsansprüche als Legitimation für sein Handeln reklamieren darf. Dies führt im Übrigen, jedenfalls nach meinem zunächst einmal subjektiven Eindruck, auch eine Reihe von durchaus ernst zu nehmenden Persönlichkeiten in dieser Region ganz persönlich in ein schwer lösbares Dilemma, die persönlich von der Notwendigkeit und Möglichkeit einer Liberalisierung ihrer eigenen Gesellschaft überzeugt sind. Durch die Wahlerfolge der eigenen Partei aber sind sie mit Erwartungen der eigenen Anhänger konfrontiert, die das genaue Gegenteil als Ergebnis der Demokratisierungsprozesse fordern, nämlich die Etablierung des Islam als Staatsreligion. Damit verbunden ist dann die Verweigerung einer Unterscheidung zwischen staatlicher und religiöser Normsetzung und die Forderung nach unmittelbarer Geltung religiös begründeter Wahrheitsansprüche als staatliches Recht.

Sechste Bemerkung: Mein Eindruck ist, dass wir es gegenwärtig mit zwei großen, ähnlich weit verbreiteten Missverständnissen zum Verhältnis von Politik und Religion zu tun haben. Das eine ist die Anmaßung, religiöse Glaubensüberzeu-gungen für unmittelbar geltendes Recht zu nehmen und im wörtlichen wie im übertragenen Sinne dann auch zu exekutieren. Das andere ist die Arroganz, freundlicher formuliert die Leichtfertigkeit, religiöse Überzeugung für überholt, belanglos oder irrelevant zu erklären. Der zweite Irrtum ist kaum weniger gefähr-lich als der erste. Er ist in unseren Breitengraden weiter verbreitet als der erste und nicht wenige, teilweise namhafte deutsche Intellektuelle haben sich in der guten Absicht der Zurückweisung des ersten Irrtums an der Verbreitung des zweiten Irrtums tatkräftig beteiligt. Religion ist aber nicht belanglos, ganz sicher nicht irrelevant. Aus der richtigen Zurückweisung fundamentalistischer Ansprüche darf nicht die Irrelevanz religiöser Überzeugungen geschlussfolgert werden, weil, wie eben erläutert, auch und gerade der aufgeklärte liberale Staat auf religiöse Bezüge nicht verzichten kann und darf.

Siebte Bemerkung: Hier möchte ich einige, eher empirisch begründete Bemerkungen zum Verhältnis von Glaube und Kirche bzw. von Politik und politischen Institutionen in Deutschland machen. Da gibt es nämlich einige interessante Parallelen, die nach meinem Eindruck die Kirchen gerne bei der Politik wahrnehmen und die Politik gerne bei den Kirchen, beide aber ungern bei sich selber. Ich beginne mit einem statistischen Hinweis zu der vorhin zurückgestellten Homogenitätsvermutung von Böckenförde, dass in der Gesellschaft, in der wir in Deutschland heute leben, noch gut zwei Drittel der Menschen einer Religionsgemeinschaft angehören, keine 60 Prozent davon mehr den beiden großen christlichen Religionsgemeinschaften (59 Prozent). Man kann, je nachdem, die nach wie vor beachtliche Mehrheit interessant finden oder die wachsende Minderheit. Belanglos ist beides nicht. Und belanglos ist schon gar nicht, dass die Vermutung, diese Gesellschaft sei religiös homogen, statistisch damit gleich in doppelter Weise widerlegt ist, weil selbst unter denen, die einer Religionsgemeinschaft angehören, einmal ganz neutral formuliert, die Heterogenität weiter zugenommen hat und die Homogenität verloren gegangen ist. Nun gibt es wiederum eine Reihe von Untersuchungen, die sich mit der Frage beschäftigen, wie es denn über die förmliche oder erklärte Zugehörigkeit zur Religion hinaus um die von der Religion vermittelten Glaubensüberzeugungen bestellt ist. Da habe ich persönlich den Eindruck, dass es ein weites Feld für Interpretationen sowohl für diejenigen gibt, die sagen, wir haben es mit einer massiven Erosion von Glaubensüberzeugungen zu tun, wie für diejenigen, die umgekehrt sagen, wir haben es mit einer erstaunlichen Stabilität von Glaubensüberzeugungen zu tun. Wobei ich mir nicht zutraue, die Frage abschließend zu beantworten, wer von beiden irrt – vielleicht beide. Jedenfalls fällt auf, dass es in einer Gesellschaft, die sich rein statistisch gesehen mit Blick auf religiöse Bindungen so signifikant verändert hat wie die bundesdeutsche Gesellschaft in den letzten 60 Jahren, unter besonderer Berücksichtigung der vergangenen 20 bis 30 Jahre, es eine überragende Akzeptanz der Bedeutung christlicher Werte für eine moderne Gesellschaft gibt. Sämtliche Untersuchungen aus jüngerer Zeit führen zu dem Ergebnis, dass rund die Hälfte aller Befragten ausdrücklich erklären, Deutschland sei stark oder sehr stark durch das Christentum geprägt, die kulturelle Verankerung der Deutschen im Christentum reiche weit über die religiöse Bindung oder das offene Bekenntnis hinaus. Besonders einschlägig wird es dann, wenn solche allgemeinen Fragen in der Weise konkretisiert werden, ob man sich beispielweise vorstellen könne, anstelle eines christlichen Feiertages einen islamischen Feiertag einzuführen, um bei dem zahlenmäßigen Überangebot christlicher Feiertage für eine signifikante Minderheit ein Äquivalent zu schaffen. Da haben wir nämlich hohe, stabile Mehrheiten, die diese Vorstellung kategorisch zurückweisen.

Mit diesem Befund kontrastiert in eindrucksvoller Weise eine dramatisch zurückgehende Kirchenbindung. Das heißt, diese große Gruppe von Menschen, die für sich Religion im Allgemeinen durchaus nicht für belanglos erklärt, die auch christliche Wertüberzeugungen nach wie vor für wichtig hält, hat ein erstaunlich dünnes, dürftiges, sich weiter ausdünnendes Verhältnis zu den Institutionen, die diese Glaubensüberzeugungen verwalten: Die Kirchenbindung macht nur noch einen deprimierend kleinen Anteil derjenigen aus, die für sich Glaubensüberzeugungen für prinzipiell bedeutend halten. Ich interpretiere das nicht weiter, ich möchte nur auf folgende Parallele aufmerksam machen: In der Politik haben wir im Grunde einen ähnlichen Befund. Wir haben ein ganz sicher nicht rückläufiges Interesse an Politik, wir haben sogar ein deutlich messbares, mindestens reklamiertes, erweitertes Partizipationsinteresse an Politik, nie war der Kreis der Menschen so groß wie heute, die zumindest behaupten, sie wollten an politischen Entscheidungsprozessen beteiligt werden. Wenn es dann konkret wird, dünnt sich das auch wieder erkennbar aus, aber dass es heute ein geringeres Interesse an Politik, oder ein geringeres Engagement für Politik gäbe als früher, dies wird man schwerlich behaupten können. Zugleich ist aber nicht nur die Attraktivität, sondern auch das Vertrauen in politische Institutionen dramatisch zurückgegangen.

Die Politik macht insofern eine ganz ähnliche Erfahrung wie die Kirchen, dass nämlich ihre jeweilige „Kundschaft“ die Relevanz des Produktes ausdrücklich bestätigt, aber mit den Handelsorganisationen möglichst nichts mehr zu tun haben will. Parlamente, Regierungen, Verfassungsinstitutionen, insbesondere Parteien haben ein dramatisch niedriges Ansehen, wobei mich nicht wirklich tröstet, dass dies kein exklusiver Befund für die Politik ist, sondern ein genereller gesellschaftlicher Befund. Davon betroffen sind auch Wirtschaft und die Unternehmen. Politik hat immerhin inzwischen einen 50-prozentigen Vertrauensvorsprung gegenüber den Banken: 6 Prozent zu 4 Prozent. Auch im Sport gibt es einen dramatischen Vertrauensverlust bei unverändertem Interesse gerade in den Sportarten, deren Seriosität man nicht mehr vertraut. Und natürlich sind auch die Kirchen von einem solchen Vertrauensverlust in einer beachtlichen Weise betroffen. Der Punkt, auf den es mir im Augenblick aber ankommt, gerade auch für unser gemeinsames Thema, ist, dass nach meinem Eindruck sowohl die Kirchen wie die Parteien auf diesen dramatischen Vertrauensverlust und die erschreckende Bindungsaufgabebereitschaft ihrer jeweiligen Kundschaften reflexhaft reagieren. Die Parteien in der Weise, dass sie als Erklärung eine sogenannte Politikverdrossenheit ausgeben und die Kirchen einen angeblichen Glaubensverlust. Ich finde beides entschieden zu „preiswert“. Zugespitzt formuliert, gibt es keine Politikverdrossenheit, das ist vielmehr die Sammelbezeichnung frustrierter Verwalter politischer Institutionen für die Bindungsverweigerung der von ihnen angesprochenen Kundschaft. Auf ähnlich preiswerte Weise versuchen die Kirchen, sich über Bindungsverlust in den eigenen Reihen hinwegzumogeln, indem sie sagen, alle Behauptungen eines grundlegenden Reformbedarfs verfehlten den eigentlichen Kern des Problems: einen angeblichen Glaubensverlust. Wir müssen nur den Glauben wieder herstellen, dann kommt die Bindung wieder zustande. Ich halte das bestenfalls für gut gemeint, aber weder für eine zutreffende Analyse noch für eine praktikable Strategie.

Dies führt im Übrigen, da bin ich bei meiner achten Bemerkung, fast folgerichtig zu einem zunehmend schwierigeren Verhältnis zwischen Kirchen und politischen Institutionen, als dies auf Grund der unterschiedlichen „Aufgaben“ ohnehin unvermeidlich wäre. Nach meinem Eindruck ist das Verhältnis zwischen Kirchen auf der einen Seite und politischen Institutionen auf der anderen Seite aber nicht einmal wirklich gestört. Es ist vielmehr durch eine merkwürdige Mischung aus Sprachlosigkeit, Kommunikationsverweigerung, Patronage und wechselseitiger Bevormundung gekennzeichnet. Fast überall da, wo es darauf ankäme, dass diese Kommunikation möglichst eng und möglichst souverän stattfindet, lassen sich genau die Störfälle beobachten, die ich nur angedeutet habe: Schwangerschaftskonfliktregelung, Präimplantationsdiagnostik, Beschneidung, Kopftücher, Kruzifixe im öffentlichen Raum, usw. Es gibt eine Reihe von Fragen, bei denen der religiöse Zusammenhang offenkundig oder jedenfalls unbestreitbar ist und bei denen die einen wie die anderen sich aus ihrer jeweiligen Verantwortung gar nicht herausmogeln können, selbst wenn sie es wollten. Dennoch hat man nicht immer den Eindruck, dass die Kommunikation zwischen Politik und Kirche reibungslos funktioniert.

Natürlich ist bei weitem nicht jede politisch bedeutsame Frage auch ethisch schwierig oder von herausragender Bedeutung. Mein Eindruck ist allerdings, dass die ethisch relevanten Fragen in jüngerer Zeit eher zunehmen als abnehmen. Dies hat wiederum keine andere Ursache als den Fortschritt von Wissenschaft und Medizin, demgegenüber sich sowohl die Politik wie die Kirchen als Adressaten sehen, die auf die damit verbundenen Veränderungen reagieren müssen. Ein objektiver Regelungsbedarf ergibt sich allein durch die breite gesellschaftliche Einsicht, dass keineswegs alles, was möglich ist, auch erlaubt sein müsse. Aber jenseits dieser allgemeinen Einsicht, für die wir hohe stabile Mehrheiten haben, teilt sich die Gesellschaft in viele unterschiedliche Gruppen, sobald aus der allgemeinen Einsicht heraus die konkrete Frage beantwortet werden muss, was bitte schön nicht erlaubt sein solle und wer wo welche Grenze zu ziehen habe. An dieser Stelle wird die längst verloren gegangene Homogenität in unserer Gesellschaft, auch was die kulturelle Identität betrifft, ganz besonders offenkundig. Ich persönlich finde es übrigens eher wieder ermutigend, dass es bei einem Thema wie der Beschneidung, um gerade ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit zu nehmen, vergleichsweise schnell gelingt, in der politischen Klasse eine breite Mehrheit für eine Regelung herbeizuführen, die einen religiös begründeten Anspruch in einer säkular verfassten Gesellschaft durchsetzbar macht. Ich will in diesem Zusammenhang Papst Benedikt XVI zitieren, der in seiner denkwürdigen Rede vor dem Deutschen Bundestag nicht nur seinerseits die Ambivalenz zwischen Wahrheitsansprüchen und Interessenausgleich angesprochen hat. Eine Ambivalenz, die unter dem Gesichtspunkt der, wie er betont, zentralen Aufgabenstellung jedes Staates, Gerechtigkeit zu ermöglichen, eine nie rundum einlösbare Aufgabenstellung darstellt, sondern er hat dann von den grundlegenden anthropologischen Fragen gesprochen, und dies mit dem Hinweis verbunden: „was in Bezug auf die grundlegenden anthropologischen Fragen das Rechte ist und geltendes Recht werden kann, liegt heute keineswegs einfach zu Tage. Die Frage, wie man das wahrhaft Rechte erkennen und so der Gerechtigkeit in der Gesetzgebung dienen kann, war nie einfach zu beantworten. Und sie ist heute in der Fülle unseres Wissens und unseres Könnens noch sehr viel schwieriger geworden.“ Es wird nicht überraschen, dass mir dieser Satz besonders gut gefällt. Und es wird auch nicht überraschen, dass es mich als engagierten Katholiken ärgert, dass mich meine Bischöfe regelmäßig mit der umgekehrten Attitüde adressieren, wonach doch selbst bei den komplexesten Fragen die ethisch einzig richtige Lösung offenkundig sei, die aber von der Politik in einer Mischung aus Höflichkeit, Ignoranz und Arroganz verweigert werde. Was wiederum jenen circulus vitiosus der Sprachlosigkeit und der Kommunikationsverweigerung dauerhaft in Gang setzt, von dem ich vorhin gesprochen habe.

Neunte Bemerkung: Wir leben längst nicht mehr in einer homogenen Gesellschaft, und es gibt keine erkennbare Aussicht, dass diese wieder hergestellt werden könnte, schon gar nicht, dass wir bereit wären, den Preis dafür zu zahlen, unter dem sie alleine wieder hergestellt werden könnte. Deswegen müssen wir uns auf der einen Seite mit der Unvermeidlichkeit des Abschieds von einer kulturell homogenen Gesellschaft anfreunden, und gleichzeitig das Missverständnis der Beliebigkeit vermeiden, als bedeute Multikulturalität, dass nichts mehr wirklich gelte, aber das gleichzeitig. Wir müssen uns auch, was offenkundig in Deutschland noch schwerer fällt als anderswo, ganz ruhig und nüchtern mit der lebenswirklichen Erfahrung auseinandersetzen, dass ohne ein Mindestmaß von Einheit Vielfalt nicht zu ertragen ist. Dies hat interessanterweise einen bekennenden Muslim wie Navid Kermani zu der erstaunlichen Schlussfolgerung veranlasst, die Grundrechte als Menschenrechte nicht nur als Errungenschaft der westlichen Zivilisation, sondern als universale Menschenrechte offensiv einzufordern. An dieser Stelle, sagt Kermani, darf eine liberale Gesellschaft nicht verhandlungsfähig sein. Das, so Kermani, müsse man mindestens unter einer „demokratischen Leitkultur“ begreifen dürfen. Mir fallen übrigens nicht viele deutschsprachige Autoren ein, die sich trauen würden, diesen Begriff auch nur in den Mund zu nehmen.

Abschließende zehnte Bemerkung: Aus den genannten Gründen plädiere ich für eine sorgfältige Trennung und zugleich für eine intelligente Verbindung von Politik und Religion, von Glauben und Handeln. Natürlich ist Religion zunächst eine reine Privatangelegenheit, aber sie hat immer auch gesellschaftliche Bedeutung. Sie muss nach ihrem Selbstverständnis mehr sein als eine reine Privatangelegenheit, und sie ist nach allen historischen Erfahrungen, die nicht nur wir, sondern auch andere Gesellschaften gemacht haben, immer mehr als eine Privatangelegenheit. Diesseits und jenseits Europas haben wir inzwischen viele eindrucksvolle, in der Regel eher abschreckende Beispiele dafür, dass die demonstrative Absage an religiöse Orientierungen eine Gesellschaft weder moderner noch humaner macht, was uns das Spannungsverhältnis zwischen Politik und Religion erhält, das uns ständig lästig ist.

Wie viel Religion erträgt eine aufgeklärte liberale Gesellschaft? Hoffentlich mindestens so viel, wie eine demokratisch verfasste Gesellschaft im Interesse ihrer Selbsterhaltung braucht.


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