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Feierstunde des Deutschen Bundestages aus Anlass des 65. Jahrestages des Inkrafttretens des Grundgesetzes
Berlin, 23. Mai 2014

Guten Morgen, meine Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Herr Bundespräsident!
Frau Bundeskanzlerin!
Herr Vizepräsident des Bundesrates!
Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts! Exzellenzen!
Lieber Herr Kermani!
Verehrte Gäste!

Wir feiern heute einen 65. Geburtstag. Das ist nichts Außergewöhnliches; denn das geschieht in Deutschland jeden Tag und in diesem Jahr geschätzt ungefähr 970 000 Mal. So viele Menschen des Jahrgangs 1949 leben nämlich bei uns.
65 ist längst kein besonderes Alter mehr für einen Menschen nicht und für Staaten ohnehin nicht. 65 Jahre sind aber bezogen auf die Geschichte der Demokratie in Deutschland durchaus ein beachtlich langer Zeitraum. Mit 65 Jahren ist das Grundgesetz inzwischen länger gültig als die Verfassung von Weimar und die Verfassung des Kaiserreichs zusammengenommen. Im Unterschied zu den beiden vorgenannten Verfassungen war es 1949 bekanntlich nur als vorläufige Lösung gedacht.

Von Provisorium ist schon lange keine Rede mehr. Das Grundgesetz ist die unangefochtene Grundlage der politischen Ordnung unseres Landes. Es gilt längst als eine der großen Verfassungen der Welt, bietet jungen Demokratien Orientierung und inspiriert andere Staaten bei der Verfassungsgebung immer wieder bis in einzelne Formulierungen hinein. Es gibt nur wenige Texte, bei denen die Diskrepanz zwischen dem bescheidenen Anspruch und der tatsächlichen Wirkung so ausgeprägt ist wie bei dieser Verfassung, die noch nicht einmal so heißen durfte.

Das Grundgesetz gehört zu den besonderen Glücksfällen der deutschen Geschichte, zu dem wir uns alle nur gratulieren können.

Meine Damen und Herren, ein wesentlicher Grund für das Ansehen und die hohe Akzeptanz des Grundgesetzes ist ganz gewiss die bemerkenswerte Fähigkeit zur Bewältigung auch veränderter Aufgabenstellungen und neuer Herausforderungen. Es hat sich in den vergangenen 65 Jahren den gesellschaftlichen wie den politischen Veränderungen gewachsen gezeigt - auch und gerade bei der Wiedervereinigung unseres Landes vor bald 25 Jahren.

Die denkwürdige Entscheidung der ersten und einzigen frei gewählten Volkskammer der DDR, dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beizutreten, damit einen existierenden Staat aufzulösen und die staatliche Einheit Deutschlands wiederherzustellen, ist ein historisch beispielloser Vorgang, der die Bindungskraft dieser Verfassung eindrucksvoll belegt.

Der Ursprungstext hat im Laufe der Jahre manche Ergänzungen erfahren. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes - Konrad Adenauer, Carlo Schmid, Theodor Heuss, Helene Wessel, um nur wenige, herausragende Persönlichkeiten des Parlamentarischen Rates zu nennen - konnten sich 1948/49 noch nicht vorstellen, dass wir einige Jahre später, nur wenige Jahre später, eine Bundeswehr brauchen und Mitglied der NATO werden würden. Noch weniger absehbar war, dass Deutschland Teil einer Europäischen Gemeinschaft werden könnte, die sich nicht nur als Wirtschaftsgemeinschaft versteht, sondern als eine politische Union, in der nationale Souveränitätsrechte zunehmend auf diese Gemeinschaft übertragen werden. Das eine wie das andere bedurfte der verfassungsmäßigen Legitimation.
Es gibt aber auch Anlass, selbstkritisch darüber nachzudenken, ob uns all die weiteren Änderungen und Ergänzungen der letzten Jahrzehnte in ähnlicher Weise gelungen sind wie der Verfassungstext von 1949.

Das Grundgesetz hat heute nahezu den doppelten Umfang, ist damit zwar deutlich länger, aber nicht unbedingt deutlich besser geworden als der schlanke Text von 1949.

Dass wir inzwischen manche zweitrangige Frage in der Verfassung geregelt haben, manchmal mit erschreckender Präzision, während zum Beispiel die herausragende Frage der Grundsätze unseres Wahlsystems, dem das Parlament und - über den Bundestag - die Regierung ihre demokratische Legitimation verdanken, noch immer keinen Verfassungsrang hat, gehört zu den im wörtlichen Sinne „fragwürdigen“ Aspekten unseres Grundgesetzes.

Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts hat kürzlich eine solche Ergänzung ausdrücklich empfohlen.
Zu den glücklichen Innovationen des Grundgesetzes gehört zweifellos die Schaffung eines Bundesverfassungsgerichts, auch wenn man nicht mit jeder einzelnen Entscheidung glücklich sein muss.

Das Bundesverfassungsgericht ist in der deutschen Verfassungsgeschichte beispiellos. Es erfreut sich zu Recht höchsten Ansehens im Inland wie im Ausland. Unser besonderer Respekt und Dank gilt den aktiven und ehemaligen Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts. Ich freue mich, dass ich heute Morgen eine stattliche Delegation aus Karlsruhe auf der Ehrentribüne bei uns begrüßen kann.

An der besonderen Stellung des Bundesverfassungsgerichts in der politischen Architektur unseres Landes besteht kein Zweifel. Niemand will das im Übrigen ändern. Es hat entscheidend zur Machtbalance der Verfassungsorgane beigetragen. Ich schließe die Rolle, die das oberste Gericht im europäischen Einigungsprozess gespielt hat, hier ausdrücklich mit ein, und schon gar die bemerkenswerten, gemeinsamen und erfolgreichen Anstrengungen zur Parlamentarisierung europäischer Entscheidungsprozesse.

Dass dabei politischer Streit gelegentlich nicht zu vermeiden ist, ist weder ungewöhnlich noch problematisch; denn das Grundgesetz selbst begründet das für unsere Demokratie durchaus produktive Spannungsverhältnis zwischen den Verfassungsorganen. Es ist dem demokratischen Verfassungsstaat systemimmanent.

Bei der Wahrnehmung des politischen Gestaltungsauftrags, den das Parlament zweifellos hat, gibt es unbestreitbar immer wieder die Versuchung des Gesetzgebers, im Regelungseifer die Grenzen der Verfassung zu strapazieren. Es gibt aber auch den gelegentlichen Ehrgeiz des Verfassungsgerichts, die geltende Verfassung durch schöpferische Auslegung weiterzuentwickeln.

Natürlich ist es die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts und seine herausgehobene Funktion in unserem Verfassungsgefüge, darauf zu achten, dass niemand und keine Institution die von der Verfassung gesetzten Grenzen überschreitet. Dabei sollte sich auch das Gericht immer wieder vergewissern, ob es die ihm selbst gesetzten Grenzen seinerseits so einhält, wie es dies von anderen Institutionen verlangt.

Die Versuchung, solche Grenzen auszuloten oder zu verschieben, beschränkt sich jedenfalls nicht auf Parlamente und Behörden. Diese Beobachtung lässt sich auch für das Verfassungsgericht machen und wird im Übrigen ja nicht nur in Wissenschaft, Politik und Medien diskutiert, sondern auch von amtierenden Verfassungsrichtern in Sondervoten vorgetragen, mit dem ausdrücklichen Hinweis auf die Verletzung der Grenzen zwischen gesetzgeberischer Gestaltung und verfassungsrechtlicher Kontrolltätigkeit.

Es dient gewiss der Stärke wie dem Ansehen sowohl des Parlamentes wie des Verfassungsgerichtes, wenn wir uns jeweils sorgfältig um die Beachtung dieser Grenzen bemühen. Die Gewaltenteilung erträgt sicher und braucht auch neben dem wechselseitigen Respekt der Verfassungsorgane kritische und selbstkritische Bezüge. Und überfällig ist zweifellos ein Verfahren zur Wahl der Mitglieder des höchsten deutschen Gerichts, das nicht nur dem Wortlaut des Grundgesetzes Rechnung trägt, sondern auch den Mindestanforderungen genügt, die der Bundestag anderen Wahlen, zum Beispiel des Wehrbeauftragten, des Datenschutzbeauftragten und des Beauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes zugrunde legt.
Dass der Deutsche Bundestag gestern in geheimer Wahl mit Kanzlermehrheit den Präsidenten des Bundesrechnungshofes wählt ‑ zweifellos ein wichtiges Amt ‑ und gleichzeitig nachträglich von der Bestellung einer neuen Verfassungsrichterin erfährt, die durch einen zwölfköpfigen Richterwahlausschuss in dieses hohe Amt - sicher nicht weniger wichtig - befördert wird, ist beider Verfassungsorgane unwürdig.

Meine Damen und Herren, Deutschland ist im Jahre 65 des Grundgesetzes ein anderes Land als 1949. In den vergangenen Jahrzehnten ist Deutschland ethnisch, kulturell und religiös vielfältiger geworden. Der Bundespräsident hat dies gestern bei der Einbürgerungsfeier zu Recht hervorgehoben und gewürdigt. Heute leben hier etwa 16 Millionen Menschen mit einer persönlichen oder familiären Einwanderungsgeschichte. Das sind rund 20 Prozent der Bevölkerung, und der Anteil insbesondere unter den Jüngeren steigt kontinuierlich.Zu den großartigen Leistungen des Grundgesetzes gehört es, diese Vielfalt zu ermöglichen. Die vom Grundgesetz garantierten Menschenrechte gelten für alle, die hier leben, seien es Deutsche oder Menschen mit unterschiedlicher Herkunft und Staatsangehörigkeit, die ihre Identität als eine doppelte oder sogar mehrfache empfinden. Navid Kermani hat das einmal für sich kurz und bündig so formuliert: „Meine Heimat ist nicht Deutschland. Sie ist mehr als Deutschland.“ Was also läge näher, als zum 65. Geburtstag unserer Verfassung einen Mann einzuladen, der aus genau dieser Perspektive spricht und noch dazu mit dem Grundgesetz groß geworden ist, das er nach seinen eigenen Worten als „eine der größten Errungenschaften der deutschen Geschichte“ versteht und verteidigt?

Navid Kermani vermittelt in seinen Reden und Texten die Konturen und die Voraussetzungen eines gesellschaftlichen Konsenses, die jene kulturelle und religiöse Vielfalt braucht, die längst deutscher Alltag ist. Er lässt dabei niemals Zweifel aufkommen an der Universalität von Demokratie, Gewaltenteilung, Religionsfreiheit, weltanschaulicher Neutralität des Staates, Toleranz, Menschenrechten, also an all dem, was unser Grundgesetz als unaufgebbare Basis unseres Zusammenlebens verbindlich für alle hier lebenden Menschen definiert. Das Grundgesetz ist, so Kermani, „die deutsche Ausprägung von Werten, die in ihrem Kern nichts Deutsches haben, sondern universal sind.“

Meine Damen und Herren, der französische Historiker Ernest Renan hat einmal sinngemäß erläutert, eine Nation sei geprägt vom Bewusstsein einer gemeinsamen Vergangenheit und von dem Willen zu einer gemeinsamen Zukunft. Unser 65 Jahre altes, 65 Jahre junges Grundgesetz stiftet als unangefochtene Grundlage der politischen Verfassung unseres Landes genau das, was wir alle in Deutschland brauchen - woher wir auch kommen, welchen Glauben wir auch haben, welche Sprache wir auch sprechen -: ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und des Willens zu einer gemeinsamen Zukunft.

Lieber Herr Kermani, wir sind neugierig auf Ihren Blick auf das Grundgesetz. Seien Sie uns herzlich willkommen!


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