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Karlsruhe macht Politik
DIE WELT, 15. Mai 2021

"Die grandiose Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland ist gewiss nicht allein dem Grundgesetz geschuldet. Aber sie wäre ohne eine solch kluge Verfassung nicht möglich gewesen", so Stephan Harbarth in einem seiner ersten Interviews als neuer Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Dass die Erfolgsgeschichte der zweiten deutschen Demokratie sich wesentlich dem Grundgesetz verdankt, wird nicht nur in Festreden regelmäßig bestätigt. Unstreitig ist auch, dass die Etablierung eines eigenen Verfassungsgerichts zur Wahrung der individuellen Grundrechte wie zur Sicherung der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern sowie der von Exekutive und Legislative zu den wichtigsten nachhaltigen Innovationen der Verfassungsordnung des Grundgesetzes gehört.

Das Bundesverfassungsgericht nimmt eine besondere Stellung im politischen System unseres Landes ein: Es prägt die Machtbalance der deutschen Verfassungsorgane. Politischer Streit ist bei der Wahrnehmung der jeweiligen Kompetenzen gelegentlich unvermeidlich - das Grundgesetz selbst begründet das für unsere Demokratie durchaus produktive Spannungsverhältnis zwischen den Verfassungsorganen. Es ist dem demokratischen Verfassungsstaat systemimmanent. So wie der Gesetzgeber zuweilen der Versuchung erliegt, bei der Wahrnehmung des politischen Gestaltungsauftrags die Grenzen der Verfassung im Regelungseifer zu strapazieren, entwickelt auch das Verfassungsgericht gelegentlich den Ehrgeiz, das Grundgesetz durch schöpferische Auslegung weiterzuentwickeln.

Es ist aber "nicht Sache des Bundesverfassungsgerichts", so mahnte Bundesverfassungsrichter Peter Müller 2014 in seinem Sondervotum zum Urteil über die Drei-Prozent-Sperrklausel im Europawahlrecht, "die vertretbare Entscheidung des Gesetzgebers durch eine eigene vertretbare Entscheidung zu ersetzen". Genau dies lässt sich auch für aktuelle Urteile beobachten. Zuletzt gab es eine Reihe von Interventionen des Bundesverfassungsgerichts gegenüber dem Gesetzgeber, die allerdings sehr unterschiedliche Wahrnehmung und Umsetzung erfahren haben.

Das strafbewehrte Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (Paragraf 217 StGB) wurde im Februar 2020 für nichtig erklärt. Das 2015 mit großer Parlamentsmehrheit nach intensiver Beratung beschlossene Gesetz ist nach Karlsruher Urteil nicht verfassungskonform, "weil es die Möglichkeiten einer assistierten Selbsttötung faktisch weitgehend entleert" und damit das allgemeine Persönlichkeitsrecht verletzt. In den Mittelpunkt seiner Argumentation hat das Gericht das Recht auf selbstbestimmtes Sterben gerückt. Das Recht, sich zu töten und dazu Hilfe in Anspruch zu nehmen, wird vom Verfassungsgericht höher gewichtet als der Schutz des Lebens und die Selbstbestimmung zum Suizid Gedrängter, die der Gesetzgeber vorrangig mit der Ausgestaltung des Paragrafen 217 StGB bezweckte. Nun wird Deutschland sicher nicht zu einem "entmenschlichten Euthanasiestaat" ("Süddeutsche Zeitung").

Aber das Urteil bedeutet eine eindeutige Verabschiedung von gesellschaftlichen Orientierungen, die jahrzehntelang maßgeblich durch die christlichen Kirchen geprägt waren. Entsprechend warnen die Evangelische Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz in einer gemeinsamen Erklärung davor, dass "organisierte Angebote der Selbsttötung in unserem Land (…) zur akzeptierten Normalität werden". Karlsruhe erkennt diese Sorge ausdrücklich an und bestätigt in seiner Urteilsbegründung dem Gesetzgeber die Kompetenz, einer "gesellschaftlichen Normalisierung"; der Sterbehilfe entgegenwirken zu dürfen - ein Gestaltungsauftrag an die Legislative, der mit den Vorgaben des Verfassungsgerichts noch schwerer einzulösen ist.

Weniger überraschend, aber kaum weniger umstritten, ist der Beschluss zum Berliner Mietendeckel. In der Sache hat sich das Verfassungsgericht gar nicht geäußert. Das war in diesem Fall nicht nötig, weil im Normenkontrollverfahren festgestellt worden war, dass der Berliner Senat keine Gesetzgebungsbefugnis hatte. Viele Fachleute hatten im Vorfeld genau diese Bedenken geäußert, die Entscheidung war also erwartbar, und die notwendige Debatte zur Mietenproblematik muss weiter dort geführt werden, wo sie hingehört.

Erhebliche politische Wirkungen hat dagegen der Karlsruher Beschluss zum Klimaschutzgesetz. Obwohl oder weil er so von fast niemandem erwartet wurde, regt sich kaum Kritik. Selten, falls je, hat die Politik von der Regierung bis zur Opposition eine so massive Intervention so freundlich aufgenommen und sofortige Umsetzung ehrgeiziger Ziele und Maßnahmen zugesagt, die bislang als nicht nötig oder nicht durchsetzbar galten. Dabei ist die zentrale Argumentation des Gerichtes politisch wie rechtlich durchaus als frag-würdig zu bezeichnen: Weil das Gesetz nicht die CO2-Reduzierung über 2030 hinaus regele, bestehe eine "eingriffsähnliche Vorwirkung" der heutigen Politik auf künftige Freiheiten, die zu unverhältnismäßigen Belastungen ebendieser Grundrechte führe.

Damit interpretiert das Gericht das Freiheitsversprechen des Grundgesetzes mit weitreichenden Folgen auch für andere Themen und Herausforderungen, die sich noch nicht absehen lassen: Es verpflichte den Gesetzgeber "zur verhältnismäßigen Verteilung von Freiheitschancen über die Generationen". Mit dem Klimaschutzbeschluss hat das Bundesverfassungsgericht den eigenen Anspruch gegenüber der Politik als zentraler Gestalter bei der Bewältigung großer Herausforderungen reklamiert - mit breiter öffentlicher Zustimmung.

Vorerst keinen Anstoß nahm Karlsruhe an der umstrittenen bundesrechtlichen Corona-Ausgangsbeschränkung, der das Gericht im Eilverfahren einen "grundsätzlich legitimen Zweck" zugesprochen hat. Auch wenn unter Fachleuten wie in der Öffentlichkeit die Geeignetheit der Ausgangsbeschränkungen umstritten sei: Dem Gesetzgeber komme das Vorrecht zu, über ihre Geeignetheit und Erforderlichkeit zu entscheiden. Hier hat das Gericht bei der Abwägung von Freiheitsrechten die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers betont. Wann im Hauptsacheverfahren entschieden wird, ist offen - vielleicht erst, wenn die Ausgangsbeschränkungen, die bis Ende Juni befristet sind, ohnehin nicht mehr gelten. Die willkommene Chance, dass sich das Thema im Zeitablauf von selbst erledigt, bietet der Klimawandel nicht.

Die Corona-Pandemie ist nicht das erste und sicher nicht das letzte Beispiel dafür, wie intensiv man über politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Fragen streiten kann und manchmal muss - auch zwischen Verfassungsorganen. Das Bundesverfassungsgericht ist dabei nicht nur die letzte Instanz, sondern auch politischer Akteur. Und die Vorstellung, seine Entscheidungen seien ausschließlich juristisch begründet und nicht auch politisch gedacht, ist ein bestenfalls gut gemeintes Missverständnis, wie insbesondere die eindrucksvolle Serie von Urteilen zu europäischen Verträgen und Finanzvereinbarungen verdeutlicht, die glücklicherweise politisch wie juristisch durchdacht sind. Diesem Anspruch müssen sich alle Verfassungsorgane stellen, denn auch die beste mögliche Verfassung lebt am Ende von der klugen Anwendung durch Exekutive, Legislative und Judikative.


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