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Laudatio bei der Verleihung des Ernst von Siemens Musikpreises 2020 an Tabea Zimmermann
München, 15. Juni 2021

Sehr geehrte Damen und Herren!

„Meine größte Sorge ist, dass sich die klassische Musik immer mehr zu einem Geschäftsmodell entwickeln könnte. Das wäre das Ende.“ Der Satz ist nicht von mir, sondern von Tabea Zimmermann. Er drückt eine unbequeme Beobachtung aus und eine begründete Sorge. Muss das unbedingt heute vorgetragen werden? Ausgerechnet zur Verleihung eines der international angesehensten Musikpreise? Natürlich nicht.

Aber was muss heute überhaupt vorgetragen werden, um eine Preisträgerin vorzustellen, die ohnehin jeder kennt und schätzt, der klassische Musik liebt? Vielleicht ist dies auch die Erklärung dafür, warum die Veranstalter für die Laudatio ganze lausige zehn Minuten eingeräumt und dazu einen Laudator ein geladen haben, der weder Musiker noch Kritiker noch Musikwissenschaftler ist, dessen einzige unzureichende Qualifikation für diese Preisverleihung darin besteht, dass er Musik im Allgemeinen mag und Tabea Zimmermann im Besonderen.

Deshalb beginnt meine Laudatio mit einer unvermeidlichen Kapitulationserklärung: Es geht nicht! Zehn Minuten reichen nicht einmal aus, um ihre Künstlerbiografie vor­zutragen und die zahlreichen Preise und Auszeichnungen, die sie im Laufe der Jahre längst erhalten hat.

Wer mit vier Jahren zum ersten Mal als Mitglied eines Streichquartetts Bachs Kunst der Fuge begegnet, mit 15 Jahren erstmals einen internationalen Wettbewerb gewinnt und auf der Bühne für eine Uraufführung steht, mit 21 Jahren als jüngste deutsche Professorin an eine Musikhochschule berufen wird, mehr als 50 CDs eingespielt und zahlreiche Kompositionen ins Konzertrepertoire gespielt hat, die es ohne sie gar nicht gäbe, ist deshalb nicht unbedingt für den Ernst von Siemens Musikpreis gesetzt, aber er bzw. sie gehört doch ganz offensichtlich zu der Elite im besten Sinne des Wortes, die andere Maßstäbe für sich setzt und gelten lässt, als sie dem Rest der Menschheit zuzutrauen oder zuzumuten sind. Zehn Minuten würden gerade so ausreichen, um all die Uraufführungen zeitgenössischer Komponisten aufzulisten, die Tabea Zimmermann gewidmet worden sind. Natürlich reicht die Zeit wieder nicht, um auch nur eine oder zwei der enthusiastischen Rezensionen zu zitieren, die über ihre Konzerte und CD-Einspielungen mit fast allen bedeutenden Orchestern und Ensembles weltweit geschrieben wurden.

Und leider können auch weder ihre Kollegen noch ihre Schülerinnen mit ihren jeweils begeisterten Kommentaren zu Wort kommen, die sich allesamt privilegiert fühlen, mit Tabea Zimmermann zusammenzuarbeiten, d. h. zusammen musizieren zu können. Immerhin gibt es zur Würdigung der Preisträgerin ein grandioses Programmheft, das informativer ist als jede noch so großzügige Laudatio sein könnte.

Von ihren Ehrenämtern muss berichtet werden: in Jurys, Beiräten und Kuratorien für Wettbewerbe und Projekte, z. B. als künstlerische Leiterin des Beethoven-Haus Bonn, insbesondere bei Projekten zur musikalischen Früherziehung. Unsere Bekanntschaft geht auf solch eine Initiative zurück: Jedem Kind ein Instrument – das hat uns damals mit verteilten Rollen zusammengeführt; von der gemeinsamen Überzeugung getragen, dass die vielgefeierte deutsche Kulturlandschaft nicht an ihren Blüten bedroht ist, sondern an ihren Wurzeln. Mit anderen Worten: Ihre Zukunft entscheidet sich nicht in den großen, glamourösen Festivals, sondern in der eher unauffälligen musikalischen Früherziehung. Wenn Tabea Zimmermann solche Aufgaben wahrgenommen hat, hat sie immer mit Begeisterung und Disziplin ausgeübt und sie hat sie wieder aufgegeben, wenn die Aufgaben erledigt waren – oder die Qualitätsansprüche aufgegeben wurden, die für Tabea Zimmermann nicht verhandelbar sind.

Es gibt – glücklicherweise – viele herausragende Musiker, Instrumentalisten. Darunter sind Pultstars und Starsolisten, Dirigenten und Galionsfiguren, Glamourgirls und -boys. Tabea Zimmermann gehört sicher nicht dazu. Sie ist nicht durch exaltierte Posen aufgefallen, sondern wenn überhaupt in einer beinahe altmodischen Rolle: als Dienerin der Musik. Zu den kommerziellen Verirrungen des internationalen Musikbetriebs hat sie eine dezidiert kritische Haltung, die als Konsequenz auch eigene Auftrittsmöglichkeiten begrenzt.

Tabea Zimmermann gehört zu den nicht allzu zahlreichen Weltstars, denen das stundenlange Proben ohne Publikum (fast) noch wichtiger ist als der umjubelte öffentliche Auftritt. Insofern – allerdings auch nur insofern – passt der ungewöhnliche Rahmen dieser Preisverleihung in Corona-Zeit zu dieser außergewöhnlichen Preisträgerin – im prächtigen, aber leeren Prinzregententheater. Dass gleichzeitig in der Allianzarena bei einem anderen bedeutenden Ereignis 14.000 Menschen dabei sein können, hier aber kaum mehr als 14 will selbst einem bekennenden Fußballfan wie mir nicht wirklich einleuchten.

Tabea Zimmermann bezeichnet sich selbst gern als „Musikerin mit dem Instrument Bratsche“. Die gelegentlich anzutreffenden Vorbehalte gegen die Bratsche als Solo-Instrument (im Unterschied zu Geige, auch Cello, Klarinette, Trompete – vom Klavier gar nicht zu reden) lösen sich buchstäblich in Wohlgefallen auf, wenn Tabea Zimmermann ihre Viola in die Hand und unter den Bogen nimmt! Und manchmal, wenn man sie spielen hört, könnte man für einen kleinen, seligen Augenblick meinen (Organisten müssen jetzt weghören oder ganz tapfer sein): die Viola sei die Königin der Instrumente.

„Kunst kommt nicht von können, sondern von müssen“, soll Arnold Schönberg gesagt haben. Mag sein – aber es klingt doch wesentlich besser, wenn man nicht das Müssen hört, sondern das Können. Und je überragender das Können ist, wie bei Tabea Zimmermann, desto grandioser hört es sich an.

Ganz zum Schluss, gewissermaßen als Zugabe: Unter Musikern gibt es, wie unter Schauspielern, Ärztinnen, Lehrern, Professorinnen, Sportlern und Politikerinnen, solche und solche. Nicht jede große Begabung ist auch eine große Persönlichkeit, ein rundum sympathischer Mensch, dem alle Herzen spontan zufliegen. Zu Tabea Zimmermann können Sie fragen, wen Sie wollen: Sie ist nicht nur eine begnadete Künstlerin, sondern auch ein wunderbarer Mensch. Gäbe es für diese Eigenschaft eine eigene Preiskategorie, wäre sie wiederum eine natürliche Anwärterin.

Ein Jammer, dass sie nicht in die Politik gegangen ist, pardon: ein Segen, dass sie Musikerin geworden und geblieben ist. Dass klassische Musik zu einem Geschäftsmodell verkümmern könnte, ist bei Tabea Zimmermann sicher nicht zu befürchten. Ein letztes Zitat: „Wahrscheinlich ist es mehr eine Frage der Persönlich­keit als des Instruments: Muss ich unbedingt in der ersten Reihe stehen?“ Auch diese Frage ist nicht von mir, sondern von ihr. Meine Antwort ist: Doch, unbedingt. Tabea Zimmermann gehört ganz sicher in die erste Reihe.

Ich gratuliere der Stiftung zu dieser exzellenten Preisträgerin und Tabea Zimmermann zu dieser besonderen und besonders verdienten Auszeichnung.


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