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Stabilität und Veränderung. Anmerkungen zur Bundestagswahl 2021
Die Politische Meinung, Nr. 570, September/Oktober 2021, 66. Jahrgang

„Wahlen sind immer gewissermaßen ein Lotteriespiel“, hat Konrad Adenauer 1957 formuliert – und das wohlgemerkt zu Zeiten, als die politische Landschaft in Deutschland übersichtlicher war als heute. Ein Spiel sind Wahlen natürlich nicht, und jedenfalls ist es am Wahlabend vorbei. Tatsächlich ist jede Wahl auf ihre Weise einmalig und jeweils anderen Bedingungen unterworfen, aber die Bundestagswahl 2021 war unter mehreren Gesichtspunkten besonders – nicht zuletzt, weil der Wahlkampf während einer Pandemie stattfand und es sich um die nach 1949 erste Wahl handelte, bei der kein amtierender Bundeskanzler antrat und bei keinem Spitzenkandidaten ein Amtsbonus zum Tragen kommen konnte.

Auf der einen Seite liest sich das Wahlergebnis als eine Bestätigung der demokratischen Mitte: Zusammen vereinen CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne 76,1 Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich; die beiden Parteien an den politischen Rändern haben Verluste erlitten. Das ist ein gutes Zeichen: In Deutschland sind Parteien erst dann und nur dann regierungsfähig, wenn sie sich um die von der Union in den Gründungsjahren der Republik definierte politische Mitte bewegen. Umso bedenklicher ist das historisch schlechte Abschneiden der CDU/CSU.

Je genauer man das Wahlergebnis betrachtet, desto verheerender zeigt sich die Tragweite der Verluste: Die Union hat seit der Bundestagswahl 2013 rund 17 Prozent verloren. Im Vergleich zu 2017 hat die CDU 87 Direktmandate verloren; in Ostdeutschland kommt sie noch auf 17,1 Prozent; und bei den Wählern unter dreißig Jahren liegt die Union an vierter Stelle; selbst die Mehrheit der über sechzigjährigen Wähler hat die Union an die SPD verloren. Auch die vermeintlich letzte Volkspartei gerät im gegenwärtigen gesellschaftlichen Klima in Turbulenzen. Die DNA der Union basiert darauf, auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes und des davon geprägten Politikverständnisses zwischen gesellschaftlichen Interessen und Positionen zu vermitteln und den Konsens durch Kompromisse zu suchen. In Zeiten zunehmender gesellschaftlicher Segmentierung in eine „Gesellschaft der Singularitäten“ (Andreas Reckwitz) und einander unversöhnlich gegenüberstehender gesellschaftlicher Kleingruppen laufen Volksparteien Gefahr, sich aufzureiben. Bürgern, die es zunehmend gewohnt sind, sich unter Gleichgesinnten zu bewegen, ist schwer zu vermitteln, warum sie ausgerechnet eine Partei wählen sollen, deren politisches Programm einen Kompromiss vieler jeweils legitimer Interessen darstellt und deshalb nicht deckungsgleich mit den eigenen politischen Erwartungen ist.

Eine Folge dieser Entwicklung ist eine abnehmende Bindung an traditionelle Großorganisationen – ein Prozess, der im Übrigen nicht nur Parteien betrifft, sondern fast alle gesellschaftlichen Institutionen. Diese Tendenz lässt sich nun im Wahlergebnis ablesen.

Das Wahlergebnis vom 26. September 2021 manifestiert einen Umbruch in der Wählerlandschaft: Die Bereitschaft der Wähler, abwechselnd für unterschiedliche Parteien zu stimmen, hat erheblich zugenommen und ist zu einem wahlentscheidenden Faktor geworden. Das belegen auch Studien der Konrad-Adenauer-Stiftung, die grundlegende Einstellungen und neue Verhaltensmuster der Wahlberechtigten untersuchen: Sie zeigen, dass sich nur noch etwa ein Viertel der Wähler vorstellen kann, regelmäßig eine bestimmte Partei zu wählen. Anders formuliert: Die Wählerschaft der Parteien besteht zu drei Vierteln aus Wechselwählern, also Bürgern, die mindestens eine zweite Parteipräferenz haben. Zudem wechseln die Wähler nicht mehr nur innerhalb eines politischen Lagers. So hat die Union die meisten Stimmen an die SPD und die Grünen verloren – fast 2,5 Millionen, während nur 50.000 frühere Wählerinnen und Wähler der CDU nicht zur Wahl gegangen sind.

Ein weiterer zentraler Aspekt dieser Wahl war die lange Regierungszeit der Großen Koalition. Diese Versuchsanordnung hat sich politisch überlebt; die gemeinsame Regierung der beiden größten Parteien ist keine langfristig tragbare Konstellation für eine vitale parlamentarische Demokratie. Gerade bei hochkontroversen Themen hat sich ein beachtlicher Teil der Bürger mit ihren legitimen Anliegen und Interessen weder in der Regierung noch im Parlament wiedergefunden, was in der Regel die politischen Ränder stärkt. Es wird deshalb allerhöchste Zeit, dass die Große Koalition wieder zu dem wird, was sie eigentlich sein sollte – ein Ausnahmezustand. Hinzu kommt, dass die CDU mit Angela Merkel wieder ganze sechzehn Jahre die Bundeskanzlerin gestellt hat. Auffällig ist, dass die Deutschen im Unterschied zu den meisten anderen stabilen Demokratien einer einmal ins Amt gebrachten Regierung eine bemerkenswert lange Gestaltungszeit zugestehen: Die Regierungszeiten von Konrad Adenauer / Ludwig Erhard, Helmut Kohl und Angela Merkel sind mit jeweils gut sechzehn Jahren länger als unter SPD-Kanzlern.

Demokratie erfordert politische Stabilität; allerdings braucht sie gelegentlich auch Veränderung. Für die Erstwähler war die Große Koalition der Normalfall deutscher Koalitionsregierungen, eine andere Kanzlerin als Angela Merkel an der Spitze einer CDU-geführten Bundesregierung haben sie nie erlebt. Selbst traditionelle Unionswähler konnten sich nach so langer Zeit eine Veränderung der Rollenverteilung nicht nur vorstellen, sondern haben mit ihrem Wahlverhalten auch aktiv daran mitgewirkt.

Neben diesen eher strukturellen Ursachen gibt es auch andere Gründe für das schlechte Abschneiden der CDU. Ansehen und Erfolg einer Volkspartei hängen wesentlich von ihrer Fähigkeit ab, unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen und Interessen zu erreichen und nach innen ebenso wie nach außen überzeugend zu integrieren. Deswegen darf sie sich nicht wie ein wandelndes Denkmal verstehen. Sie muss lebendige Membran sein, die Veränderungen vermittelt. Hier gibt es für die CDU offensichtlich Nachholbedarf. So hat die Union das übergeordnete Thema „Klimawandel“, das einen Großteil der Wähler derzeit besonders bewegt, konzeptionell nicht ausreichend besetzt. Das ist besonders ärgerlich, weil es die CDU war, die diese Thematik schon vor Jahrzehnten in den Rang einer Regierungsaufgabe gehoben hat: Es war Helmut Kohl, der bereits Mitte der 1980er-Jahre das Umweltministerium etablierte, und Klaus Töpfer, der als Bundesminister wichtige Akzente setzte. Programmatisch hat die Union den Themenkomplex Klimawandel und Umweltschutz entgegen der zunehmenden gesellschaftlichen Debatte mit sinkendem Ehrgeiz behandelt. Es ist deshalb wenig verwunderlich, dass sich eine fehlende oder zumindest nicht ausreichende programmatische Prägnanz negativ auf die Wahlperformance auswirkt, wenn eine Partei die Priorisierung der Wählerschaft verschläft.

Das Profil der CDU ist insgesamt unscharf und für viele ihrer traditionellen Wähler austauschbar geworden. Zurückzuführen ist das auch auf einen Prozess, den man als die „Christdemokratisierung“ der SPD und der Grünen bezeichnen könnte. Beide Parteien haben sich in vielen grundlegenden politischen Positionen – das Bekenntnis zu Europa, Multilateralismus, NATO, Soziale Marktwirtschaft – so stark der Union angenähert, dass sich für CDU-Anhänger die Wahl einer dieser Alternativen längst nicht mehr als fundamentale Abkehr zu elementaren politischen Grundüberzeugungen darstellt.

Auch deshalb ist es an der Zeit, die angekündigte, jedoch nicht zu Ende geführte Programmdiskussion wieder aufzunehmen. So profitierte die Partei in den 1970er-Jahren schon einmal von einem umfassenden Modernisierungsprozess, der mit Öffnung und Vertiefung der innerparteilichen Willensbildung einherging und sich 1978 im ersten Grundsatzprogramm der CDU niederschlug.

Deutschland ist das größte und wirtschaftsstärkste Land der Europäischen Union. Unsere liberale Gesellschaft strahlt in weiten Teilen der Welt eine starke Attraktivität aus. Aber unser gesellschaftliches und politisches Modell in Europa hat Konkurrenz bekommen. Mit Russlands aggressiver Außenpolitik und Chinas demonstrativem Geltungsanspruch konfrontieren uns strategische Herausforderer. Diese internationale Konkurrenzsituation wird uns in den 2020er-Jahren beschäftigen. Gerade auch vor dem Hintergrund des US-amerikanischen Abzugs aus Afghanistan und der damit einhergehenden Auswirkungen für die internationale Politik muss Deutschland als Teil der Europäischen Union Gestaltungsfähigkeit nach außen und zugleich den Nutzen der europäischen Integration nach innen beweisen. Dabei gilt es, in Abstimmung mit den europäischen Nachbarn und in enger Zusammenarbeit mit den USA zu agieren. Eine Äquidistanz zu China oder Russland und den USA kann keine vernünftige Option für Deutschland und Europa sein.

Daneben wird die Klimafrage zweifellos eine der zentralen Herausforderungen bleiben. Dabei müssen die vielfältigen legitimen Interessen unterschiedlicher Teile der Gesellschaft berücksichtigt werden. Ein „klimaneutrales Industrieland“ zu werden und zu bleiben, ist ein anspruchsvolles Alternativkonzept im politischen Wettbewerb, das allerdings präzisiert und offensiv kommuniziert werden muss. Eine nachhaltige Wachstumsstrategie muss auf marktwirtschaftliche Instrumente setzen und mit Anreizen, nicht mit Verboten arbeiten sowie Innovationen und Wettbewerb fördern. Klimapolitik, Innovationsförderung und Soziale Marktwirtschaft müssen eng miteinander verknüpft werden.

Schließlich ist auf die Dringlichkeit einer Wahlrechtsreform hinzuweisen. Die nochmalige Vergrößerung des Bundestags auf jetzt 735 Abgeordnete bestätigt die Unzulänglichkeit der bisherigen Scheinreformen. Ein Wahlrecht, das die Zahl der Mandate im Parlament in nicht absehbarem Umfang weiter erhöht, strapaziert dessen Ansehen wie seine Funktionsfähigkeit und erschwert die Arbeitsbedingungen der Abgeordneten. Denn die Komplexität des parlamentarischen Aushandlungsprozesses steigt mit der Anzahl der Parlamentarier. Allein der Umstand, dass die Wähler am Wahltag nicht wissen, wie viele Abgeordnete sie wählen, ist Anlass genug für eine Reform, die das Wahlergebnis in der Anzahl wie in der Verteilung der Mandate plausibel macht. Es ist nun endlich an der Zeit, dieses Problem zu lösen.

Die künftige Regierung und der neue Bundestag haben große Aufgaben vor sich, die durch vorauseilenden Regelungsehrgeiz allerdings nicht hinreichend zu bewältigen sind; denn wie eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung und des Instituts für Parlamentarismusforschung jüngst gezeigt hat, werden die Koalitionsverhandlungen in den letzten Jahren nicht nur von immer größeren Delegationen geführt, sondern auch zunehmend detaillierter beraten. Damit steigt nicht zuletzt die Gefahr, dass Regierungshandeln und parlamentarische Willensbildung allzu sehr determiniert werden.

Für die Union gilt es nun, die richtigen Schlussfolgerungen aus dem Wahlergebnis zu ziehen. Offenkundig muss sie die nächste Legislaturperiode nutzen, um sich programmatisch neu zu sortieren und präziser zu kommunizieren, wofür sie steht. Das mag durchaus leichterfallen, wenn sie nicht gleichzeitig in Regierungsverantwortung ist. Die Initiative des Parteivorsitzenden Armin Laschet und die Entscheidung des Bundesvorstands der CDU zeigen jedenfalls, dass es jetzt der richtige Zeitpunkt für die Union ist, innerparteiliche Veränderungen vorzunehmen, um auch künftig der Stabilitätsanker unserer Demokratie zu bleiben.


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