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Nie wieder ist jetzt! – Konzert mit Statement gegen Antisemitismus
Dortmund, 2. Dezember 2023

Meine Damen und Herren,

„Nie wieder!“ Wie oft ist dieser unvollständige Satz gesagt, geschrieben, plakatiert und beschworen worden – in Deutschland als Erinnerung und Mahnung an die entsetzliche Judenverfolgung in der Zeit des Nationalsozialismus; und in Israel als Ausdruck der Entschlossenheit allen Jüdinnen und Juden einen Platz auf der Welt zu bieten, an dem sie frei von Verleumdungen, Bedrohungen und Verfolgungen sicher leben können.

„Nie wieder?“ Am 7. Oktober dieses Jahres hat es wieder stattgefunden. Ein systematisch geplanter und durchgeführter Massenmord durch Terroristen der Hamas mit dem Angriff auf israelische Zivilisten. Mit mehr als 1200 Tote, weit mehr als 200 gekidnappte Geiseln – vom zehn Monate alten Säugling bis zum hochbetagten Kreis. Es handelt sich um die größte Zahl an jüdischen Opfern, die es seit der Shoah an einem Tag jemals gegeben hat.

Erst allmählich ist das ganze Ausmaß und die Exzesse des unvorstellbaren Massakers an diesem Tag der Öffentlichkeit deutlich geworden. Geköpfte Babys und Kinder; eine Hetzjagd auf junge Leute bei einem Musikfestival; im Rollstuhl erschossene Senioren; in ihren Schutzräumen bei lebendigem Leib verbrannte Menschen; vor den Augen ihrer Kinder vergewaltigte Frauen – alles gefilmt mit den Helmkameras der Terroristen und von ihnen ins Netz eingestellt, um den unmissverständlichen Vernichtungswillen der Welt zu dokumentieren.

Wir alle haben die Ereignisse dieses Tages und der letzten Wochen mit Fassungslosigkeit, Entsetzen, Trauer und nicht selten verzweifelter Wut verfolgt. Seitdem sind die Verhältnisse nicht einfacher, eher noch schwieriger geworden. Wenig spricht für die Vermutung, dass es in absehbarer Zeit sehr viel einfacher wird. Bei genauem Hinsehen finden gleichzeitig drei Tragödien statt: zum einen die erneute Herausforderung des Existenzrechts Israels; zum anderen eine humanitäre Katastrophe im Gazastreifen; und nicht zuletzt ein erschreckender Anstieg des Antisemitismus an vielen Plätzen der Welt, auch und ausgerechnet in Deutschland.

Weil die Vernichtung jüdischen Lebens in Deutschland und wenn eben möglich weltweit erklärter Teil deutscher Staatsräson des Nazi-Regimes war, muss die Sicherheit des Staates Israels und aller hier in diesem Land lebenden jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger Teil der Staatsräson eines aufgeklärten, zivilisierten, demokratischen Deutschland sein. Das ist die eigentliche Logik des Satzes, die Sicherheit Israels sei Teil der deutschen Staatsräson.

Israel ist im Übrigen wohl der einzige Staat auf dieser Welt, der sich allein für seine Existenz rechtfertigen muss, weil seine fanatischen Feinde schlicht nicht akzeptieren, dass es ihn gibt. Vom Tag der Gründung an im Mai 1948 ist dieser Staat bekämpft und bekriegt worden in einer Serie von immer neuen alten, gewaltsamen Auseinandersetzungen. Eine Nachkriegszeit wie in Deutschland nach 1945 hat es in Israel nie gegeben. Das, was uns ganz selbstverständlich erscheint, haben die Menschen in Israel gerne und ganz selbstverständlich auch für sich realisieren wollen, aber zu keinem Zeitpunkt in vergleichbarer Weise sicher gehabt.

Dass es an der deutschen Haltung gegenüber diesem Staat, seinem Existenzrecht, der Sicherheit, der Freiheit, dem Selbstbestimmungsrecht von Jüdinnen und Juden wie von allen anderen Menschen auch keinen Zweifel gibt und geben darf, ist gut und schön. Und die wiederholten Erklärungen von Bundespräsidenten, Bundesregierung und Parlamenten, Parteien und Gewerkschaften sind ebenso richtig wie wichtig, aber sie reichen allein nicht aus. Die Frage, wie ernst wir das „Nie wieder!“ meinen, muss diese Gesellschaft beantworten. Sie muss unmissverständlich deutlich machen, wo sie steht – vor, neben und hinter wem.

Ich kann gut die Verunsicherung und zunehmend artikulierte Enttäuschung vieler unserer jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger verstehen, die lange, viel zu lange auf entschlossene Zeichen dieser Gesellschaft gewartet haben. Diese Enttäuschung ist umso berechtigter, wenn man berücksichtigt, mit welcher menschlichen Größe nach allem, was in der jüngeren Geschichte zwischen unseren Ländern geschehen ist, Jüdinnen und Juden uns Deutschen in der Gemeinschaft freier Länder eine neue Chance gegeben haben.

Ich werde gelegentlich gefragt, was denn eigentlich das eindrucksvollste Erlebnis in meiner Amtszeit als Bundestagspräsident gewesen sei. Ich sage regelmäßig, was ich heute Abend gerne wiederhole: Die eindrucksvollste Erfahrung war mein erster offizieller Besuch in diesem Amt in Jerusalem und der Empfang in der Knesset, dem israelischen Parlament. Dass ich dort nicht mit Eiern beworfen würde, hatte ich erwartet. Einen freundlichen, höflichen Empfang konnte man durchaus erwarten. Aber dass ein deutscher Parlamentspräsident vor dem israelischen Parlament mit einer militärischen Ehrenformation und dem Abspielen der deutschen Nationalhymne empfangen würde, das ging über mein Vorstellungsvermögen weit hinaus. Als ich meinen letzten Besuch in Israel absolviert habe, hat mir der damalige Knessetpräsident Yuli-Yoel Edelstein den Schlüssel der Knesset überreicht mit der Begründung: Er wisse, wo die wichtigsten Freunde Israel zu finden seien. An diesem Maßstab gemessen haben wir in den letzten Wochen keine besonders eindrucksvolle Bekundung unserer Haltung auf die Straßen gebracht. Umso wichtiger sind Veranstaltungen wie diese mit den Zeichen, die sie setzen und auch unbedingt setzen müssen.

Israel, dieser aus vielen Gründen empfindliche Staat im Nahen Osten, wird nie Sicherheit haben, solange der Terror der Hamas nicht endgültig beseitigt ist. Und zugleich wird es für Israel nur dauerhaft Sicherheit geben, wenn es auch für die Palästinenser eine verlässliche Zukunftsperspektive gibt. Für beides müssen wir eintreten. Unmissverständlich. Das eine wird ohne das andere nicht zu haben sein.

Für unschuldige Opfer, auf welcher Seite auch immer, gibt es in jedem Herz einen Platz. Anstand und Respekt sind unteilbar. Sie sind nicht wechselseitig aufrechenbar. Das muss auch und gerade im eigenen Land gelten. Und die Frage ist nicht nur erlaubt, sondern dringlich geworden, wie ernst wir es mit diesen allgemeinen Bekenntnissen meinen.

Die Anzahl antisemitischer Vorfälle ist seit dem 7. Oktober dramatisch gestiegen. Übrigens die Anzahl anti-islamischer Aktivitäten auch, die genauso inakzeptabel sind. Im Vergleich zu den entsprechenden Zahlen der Vorjahre sind Beschädigungen, Verleumdungen, Bedrohungen von jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern in den letzten Wochen um das 4, 5, 6-fache gestiegen. Dass Wohnungen und Häuser jüdischer Bürgerinnen und Mitbürger mit Davidsternen markiert werden, und Brandsätze auf Synagoge geworfen werden, hätte ich mir bis vor Kurzem nicht vorstellen können. Dass auf deutschen Straßen und Plätzen tödliche, bestialische Angriffe auf jüdische Zivilisten bejubelt und gefeiert werden, ist abscheulich und durch nichts, aber auch gar nichts zu rechtfertigen.

Die unbequeme Wahrheit ist, es gibt Antisemitismus in diesem Land. Und es gibt, wenn man genauer hinsieht, vielfältige Formen von Antisemitismus: Es gibt einheimischen Antisemitismus und es gibt eingewanderten Antisemitismus; es gibt einen christlichen Antisemitismus und einen muslimischen Antisemitismus; es gibt einen rechten wie einen linken Antisemitismus; es gibt einen offenen und einen verdeckten Antisemitismus. Und in welcher Variante auch immer er auftritt: Er ist menschlich unanständig, gesellschaftlich inakzeptabel und politisch intolerabel, schon gar in Deutschland.

Haben wir die Lektionen der Geschichte gelernt? Jedenfalls nicht so gründlich, wie wir gerne geglaubt und voreilig verkündet haben. Dass Israelis in Deutschland lebende Angehörige auffordern, nach Israel zu kommen, weil sie um ihre Sicherheit in Deutschland fürchten, ist ebenso erschütternd wie beschämend.

Nie wieder! Solidaritätsadressen sind leicht formuliert, aber schwer umzusetzen. Der Realitätstest findet im Alltag statt. Jetzt und hier. Nie wieder ist jetzt. Oder es ist nicht ernst gemeint.

Shalom.


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