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"Einigkeit und Recht und Freiheit. Leben und Vermächtnis des großen Deutschen und Europäers"
Gedenkrede des Bundestagspräsidenten Norbert Lammert anlässlich des 40. Todestages von Konrad Adenauer am 19. April 2007 in Bonn

Magnifizenz,
liebe Frau Dr. Willms,
verehrte Angehörige der Familie Adenauer,
liebe Kolleginnen und Kollegen aus Parlamenten und öffentlichen Einrichtungen,
meine Damen und Herren,

es gehört zu den normalen Abläufen der Zeitgeschichte, die nicht weiter erläuterungsbedürftig sind, dass die Bedeutung von Personen und Persönlichkeiten, jedenfalls die Wahrnehmung ihrer Bedeutung in der Regel mit der jeweiligen Amtszeit endet. Seit 1949 hat es in der zweiten deutschen Republik einige Dutzend Kanzler, Staatsoberhäupter, Parlaments- und Verfassungsgerichtspräsidenten gegeben, einige hundert Ministerpräsidenten und Minister, einige tausend Abgeordnete des Bundestages und der Landtage, darunter wichtige Fraktionsvorsitzende, Parlamentarische Geschäftsführer, Ausschussvorsitzende oder Vorsitzende von Arbeitsgruppen. Weil sie bedeutende Ämter ausüben, werden sie bekannt, öffentlich wahrgenommen und für wichtig gehalten. Mit dem Ende der Ausübung dieser Ämter geht meist auch die öffentliche Wahrnehmung zu Ende, der Bekanntheitsgrad verschwindet allmählich und von der Bedeutung bleibt, wenn überhaupt, ein bescheidener Rest zurück.

Konrad Adenauer ist anders. Die Wahrnehmung seiner Bedeutung als Gründungskanzler der Bundesrepublik Deutschland hat seit der Aufgabe seiner Ämter und seit seinem Tode nicht abgenommen, sondern kontinuierlich zugenommen. In der Beurteilung seiner Bedeutung sind sich Wissenschaft und Öffentlichkeit erstaunlich einig, politische Freunde und Weggefährten wie Gegner und Konkurrenten. Willy Brandt, den er als politischen Gegner leidenschaftlich und nicht immer nur fair bekämpft hat, hat Konrad Adenauer bei seinem Tode gewürdigt als „Architekten der Bundesrepublik Deutschland, als Staatsmann von europäischem Rang und Persönlichkeit von geschichtlicher Größe“. In einer Sendung des Zweiten Deutschen Fernsehens über „Die großen Deutschen“ wurde Konrad Adenauer Ende November 2003 in einen virtuellen Wettbewerb mit anderen prominenten Persönlichkeiten der Deutschen Geschichte gestellt, zu denen nach der Namensvorgabe der Redaktion neben Otto von Bismarck und Ludwig van Beethoven u.a. Dieter Bohlen, Beate Uhse und Herbert Grönemeyer gehörten. Ein – wie ich nebenbei finde – bemerkenswertes Indiz für eine bemerkenswerte öffentlich-rechtliche Verwechslung von Bekanntheit und Bedeutung. Aus diesem virtuellen Wettbewerb ist Konrad Adenauer mit großem, riesigem Vorsprung vor Martin Luther und Karl Marx als bedeutendster Repräsentant dieses Landes hervorgegangen. Dies mag bei manchen Zweifeln, die einen gelegentlich ja auch befallen, eine willkommene Stütze des Vertrauens in das Urteilsvermögen deutscher Zeitgenossen sein, von denen ja die meisten auch Wählerinnen und Wähler sind.

Konrad Adenauer hat in seiner denkwürdigen politischen Laufbahn fünf herausragende Ämter wahrgenommen. 16 Jahre lang war er zwischen 1917 und 1933 Oberbürgermeister von Köln, zwölf Jahre von 1921 bis 1933 Präsident des Preußischen Staatsrates, er war in einer kurzen, aber entscheidenden Phase der Neuformierung dieses Landes nach dem Zweiten Weltkrieg Präsident des Parlamentarischen Rates, der die Verfassungsordnung für dieses neue Deutschland formulieren sollte. 14 Jahre war er Bundeskanzler und von 1950 bis 1966 Parteivorsitzender der Christlich-Demokratischen Union. Jedes dieser Ämter hat er in einer Maßstäbe setzenden Weise ausgeübt. Über seine Kölner Amtszeit ist heute nicht und über seine Weimarer Funktionen nur am Rande zu reden. Immerhin lässt sich festhalten, dass Konrad Adenauer auch ohne seine spätere, völlig unabsehbare bundespolitische Prominenz zu den großen, bedeutenden, überragenden Kölner Oberbürgermeistern gezählt wurde bzw. gezählt wird. Dies wird heute abend in einer fast zeitgleich stattfindenden Veranstaltung im Kölner Rathaus zu Recht gewürdigt. So knapp seine denkwürdige Wahl zum ersten Kanzler der Bundesrepublik Deutschland war, so eindeutig fiel seine Wahl zum Oberbürgermeister aus. Er wurde damals einstimmig als jüngster Oberbürgermeister in Deutschland in dieses Amt gewählt und auch als Präsident des Staatsrates wurde er Jahr für Jahr im Amt bestätigt. Seine Amtsführung brachte ihn auch als möglichen Reichskanzler ins Gespräch. Es gehört vermutlich zu den wenigen glücklichen Fügungen der unglücklichen Geschichte der Weimarer Republik, dass daraus damals nichts wurde.

Ich will mich heute abend vor allem auf die beiden Funktionen und Rollen Konrad Adenauers konzentrieren, für die er weder jemals kandidiert hat noch förmlich gewählt werden konnte: Die Rolle des großen Europäers, eines der Gründungsväter des neuen Europa, und die Rolle des Veränderers, des Erneuerers, der in einer bis heute – wie ich glaube – nicht hinreichend aufgearbeiteten Weise Modernisierung und Restauration miteinander zu verbinden wusste.

Das Interesse an Europa und die Einsicht in die zwingende Notwendigkeit einer Neuordnung des europäischen Staatengefüges begleitet die politische Laufbahn Konrad Adenauers von Anfang an. Schon im Juni 1919 ruft Konrad Adenauer, damals als Oberbürgermeister von Köln, bei der Eröffnungsfeier der Universität dazu auf, „das hohe Werk dauernder Völkerversöhnung und Völkergemeinschaft zum Heile Europas zu fördern“ und präzisiert ein paar Jahre später, im Mai 1924 bei der Eröffnung der Kölner Messe, „es muss wieder eine Atmosphäre des Friedens in Europa geschaffen werden, und es scheint, dass dabei die Wirtschaft der Politik Wegbereiterin sein muss“. Seine Vorstellungen einer Verflechtung der europäischen Schlüsselindustrien nehmen den Grundgedanken des Schuman-Plans von 1950 vorweg. Von diesem Schuman-Plan hat Konrad Adenauer dann später kommentierend bemerkt: „Dieser Plan, wie auch der Plan über die EVG, sind nur ein Anfang. Sie sind zunächst deswegen nur ein Anfang, weil erst sechs europäische Länder davon erfasst werden. Aber es wäre töricht, wenn ich nicht mit sechs Ländern anfangen würde und erst warten wollte, bis alle kommen. Ich bin überzeugt, wenn der Anfang mit sechs Ländern gemacht ist, kommen eines Tages alle anderen europäischen Staaten auch hinzu.“ Alle anderen europäischen Staaten kommen auch hinzu: Da muss man schon über ein gewaltiges Maß nicht nur an visionärer Begabung, sondern auch an Wirklichkeitsresistenz verfügt haben, um aus der Perspektive des Jahres 1952 nicht nur das, was gerade begonnen hat, auch ausdrücklich nur als Anfang zu bezeichnen, sondern vorwegzunehmen, dass Zeiten kommen werden, in denen dies ein Europa sein wird, zu dem die westlichen wie die östlichen Länder dieses Kontinents mit gleicher Selbstverständlichkeit gehören.

Seine Bemerkung vor der Beratenden Versammlung des Europarates im Dezember 1951 könnte fast wie ein aktueller Kommentar zur gegenwärtigen Diskussion über Glanz und Elend der europäischen Gemeinschaft und der europäischen Einigungsbemühungen gelesen werden: „Der Zwang zu einer europäischen Vereinigung ist nicht ein Schicksal, das Europa erleidet, es ist vielmehr ein schöpferischer Impuls, der der Größe der europäischen Tradition würdig ist.“

Wie sehr Konrad Adenauer unter dem Scheitern des vorhin kurz erwähnten Anlaufs, eine europäische Verteidigungsgemeinschaft zu gründen, gelitten hat, ist oft genug beschrieben und erläutert worden. Immerhin sollte man zur Begründung der Bedeutung dieses Projektes und seiner Einschätzung des Scheiterns des Projektes in Erinnerung rufen, dass der Vorschlag des damaligen französischen Ministerpräsidenten René Pleven, eine gemeinsame europäische Armee aufzustellen, mit dem Vorschlag der Gründung einer europäischen politischen Gemeinschaft verbunden war, einem Vorschlag, den Konrad Adenauer unverzüglich aufgriff und mit Leidenschaft vorantrieb. Zunächst sah es auch ganz so aus, als würde dieser große Wurf in einer gemeinsamen Überzeugung der beteiligten sechs Länder zu einem schnellen Erfolg führen – Parallelen zu jüngeren Entwicklungen europäischer Verfassungstexte sind hoffentlich reiner Zufall –, jedenfalls wurde dieser Vertragsentwurf am 27. Mai 1952 von den Regierungen aller sechs zur Beteiligung eingeladenen Staaten unterzeichnet. Er wurde auch in fünf der sechs Staaten ratifiziert, aber eben nicht in allen. Er ist in der französischen Nationalversammlung gescheitert, und es gibt kaum ein zweites politisches Ereignis in der Biographie Konrad Adenauers, das er häufiger und dramatischer als einen Rückschritt in der für notwendig gehaltenen europäischen Entwicklung beschrieben und beschworen hatte als das damalige Scheiterns dieses Anlaufs. Es hat dann einen neuen Anlauf gegeben, einen Vorschlag des belgischen Außenministers Paul Henri Spaak zur Verschmelzung der Nationalwirtschaften durch Errichtung eines gemeinsamen Marktes, verbunden mit einer europäischen Organisation zur friedlichen Nutzung der Atomenergie. Dazu hat es Verhandlungen gegeben, zu denen schon damals übrigens auch die britische Regierung eingeladen wurde. Diese Verhandlungen schleppten nur sehr zögerlich hin, und auch, nachdem die Briten förmlich aus den weiteren Überlegungen ausgestiegen waren – übrigens mit der historisch protokollierten erleichterten Vermutung, daraus würde ohnehin nichts – kam unter den verbleibenden gleichen sechs Ländern der erhoffte Konsens keineswegs schnell zustande. Auch diese vertraglichen Bemühungen drohten zu scheitern, bis Konrad Adenauer persönlich nach Paris reiste und mit dem damaligen französischen Ministerpräsidenten Guy Mollet die Kompromisslinie fand, auf deren Grundlage dann in den folgenden Wochen die Vereinbarung unter den sechs Partnern gefunden werden konnte.

Für viele Beobachter war das damals nicht nur ein neuer, sondern auch ein anderer Anlauf, Europa zusammenzubringen: ökonomisch statt politisch. Für Konrad Adenauer war es ein neuer Anlauf zum selben Ziel. In den protokollierten Sitzungen des Parteivorstandes der CDU befindet sich eine Bemerkung Konrad Adenauers aus dem November 1959, der gerade im Jahr davor in Kraft getretene gemeinsame Markt „muss betrachtet werden nicht in erster Linie als ein wirtschaftlicher Vertrag, sondern als ein politisches Instrument. Er muss im Zusammenhang betrachtet werden mit dem Europarat, der Montanunion und Euratom, kurz und gut, es handelt sich hier um eine Reihe von politischen Fakten. Die EWG ist in der Hauptsache ein politischer Vertrag, der bezweckt, auf dem Wege über die Gemeinsamkeit der Wirtschaft zu einer politischen Integration Europas zu kommen.“

Ich finde diesen Zusammenhang besonders beachtlich, weil ich ihn für einen besonders eindrucksvollen Beleg sowohl der Hartnäckigkeit wie der Flexibilität des Bundeskanzlers Konrad Adenauer halte. Hans-Peter Schwarz erläutert in seinen ebenso akribischen wie einfühlsamen Büchern über Leben und Werk Konrad Adenauers, dass jedenfalls nach seiner Einschätzung von einer von Anfang bis Ende geradlinigen Europapolitik ernsthaft keine Rede sein kann. Konrad Adenauer habe je nach Lage der Dinge im Laufe der Zeit durchaus nicht nur unterschiedliche taktische Kalküle, sondern ganz heterogene Ziele verfolgt. „Er hat als Föderalist begonnen und als Konföderalist an der Seite de Gaulles geendet. Man kann ihn genauso gut für das supranationale Europa reklamieren oder darauf verweisen, dass er sich seit Ende der 50er Jahre im Sog de Gaulles für ein Europa der Vaterländer, sprich der Nationalstaaten wieder erwärmt habe.“ Jedenfalls, wie immer die Historiker mit dieser wichtigen Gründungsphase der Europäischen Gemeinschaft unter Berücksichtigung von alten und neuen Quellen weiter umgehen mögen, eines wird man sicher sagen können: Adenauer, der von Beginn seiner Laufbahn an ein ausgeprägtes und ausdrückliches Interesse an einer Veränderung der politischen Verhältnisse in Europa hatte, hat sich immer wieder an den tatsächlichen Verhältnissen und damit nach den tatsächlichen Möglichkeiten gerichtet und ein mehr oder weniger, aber nie abschließend beschriebenes Ziel mit der ihm eigenen Sturheit verfolgt. Damit ist er sicher nicht zuletzt seiner eigenen vielzitierten Maxime gefolgt, man solle sich „niemals so weit festlegen, dass man anders gar nicht mehr kann“.

Fragt man nach der Modernität der Adenauer-Ära, dann empfiehlt es sich als erstes, sich über die Maßstäbe zu verständigen, mit deren Hilfe man diese Frage beantworten will. Zeitgenossen, zu welchen Zeiten auch immer, haben sich angewöhnt, die Jetzt-Zeit ganz selbstverständlich für die Moderne zu halten und daraus messerscharf zu schließen, dass alles, was davor stattgefunden hat, zur Vor-Moderne gehören muss. Eine besondere Ausprägung dieser Denkfaulheit haben wir unmittelbar nach dem Ausscheiden und dem Tod Konrad Adenauers erlebt, als mit besonderem Fleiß die sogenannte 68er-Generation die Ära Adenauer als eine Ära der Restauration karikiert hat, um gleichzeitig den vermeintlich nun dringlichen Aufbruch in die Moderne zu proklamieren. Ein so unverdächtiger und kluger Analytiker wie Hermann Lübbe hat schon vor einer Reihe von Jahren darauf hingewiesen, dass dieser Versuch, die Adenauer-Ära als vormodern oder gar restaurativ zu etikettieren, ganz offenkundig in das Reich parteipolitischer Mythenbildung gehöre. Denn wenn man das Deutschland der Adenauerzeit sowohl mit der deutschen Zeit davor als auch mit den europäischen Verhältnissen zur gleichen Zeit in Verhältnis setzt, dann ist eine geradezu stupende Modernität nur schwer zu übersehen.

Es gibt eine Reihe von Hinweisen sowohl in den Reden und vor allem im Handeln Konrad Adenauers, die diesen Veränderungswillen, die diesen Erneuerungswillen in besonderer Weise dokumentieren. In einer Grundsatzrede der CDU erklärte Konrad Adenauer im März 1946, damals Vorsitzender der CDU der britischen Zone, „unser Ziel ist die Wiedererstehung Deutschlands“, das ist übrigens der Teil, den ich mit Restauration und Modernität als eine besonders anspruchsvolle und besonders erstaunlich gelungene Verbindung gemeint habe. „Unser Ziel ist die Wiedererstehung Deutschlands, aber es soll nicht wiedererstehen das zentralistische, auch nicht das von Preußen als Vormacht geführte frühere Deutschland. Deutschland soll ein demokratischer Bundesstaat mit weitgehender Dezentralisation werden.“ Das war zwei Jahre vor dem Parlamentarischen Rat, über dessen Arbeit in einem beachtlichen Teil der Literatur noch immer die Auffassung vertreten wird, es handele sich hier schlicht und ergreifend um die Umsetzung alliierter Vorgaben, das habe mit deutschen Vorstellungen relativ wenig zu tun gehabt. Noch bevor der Parlamentarische Rat überhaupt absehbar, geschweige denn konstituiert war, finden wir bei Adenauer eine glasklare Vorstellung, was anders werden muss in Deutschland, wenn Deutschland „wiedererstehen“ soll. Er hat damals hinzugefügt, „wir glauben, dass eine solche staatliche Gestaltung Deutschlands auch die beste ist für die Nachbarländer. Ich hoffe, dass in nicht zu ferner Zukunft die Vereinigten Staaten von Europa, zu denen Deutschland gehören würde, geschaffen werden und dass dann Europa, dieser so oft von Kriegen durchtobte Erdteil, die Segnungen eines dauernden Friedens genießen wird.“ Churchills hat seine zu Recht berühmte Rede mit der Forderung zur Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa ein paar Monate später gehalten.

Wer sich mit Adenauers Leben und Werk etwas intensiver beschäftigt, den wird am Ende nicht mehr sonderlich überraschen, was auf den ersten Blick ausgesprochen verblüffend, vielleicht sogar kokett wirken mag, nämlich seine Bemerkung, unter allen seinen Leistungen, tatsächlichen oder ihm zugeschriebenen Leistungen, sei ihm die gelungene Gründung einer völlig neuen Partei die wichtigste, die bedeutendste gewesen.

Das, was mit dieser Parteigründung und der damit ausgelösten Eigendynamik für ein neues Deutschland auf den Weg gebracht wurde, ist an Innovativwirkung allerdings schwerlich zu überschätzen.

Als Konrad Adenauer erster Kanzler der Bundesrepublik Deutschland wurde, brachte er wie kaum jemand sonst politische Erfahrungen aus drei Epochen deutscher Geschichte mit in sein neues Amt. Er hatte den Untergang des Bismarck-Reiches erlebt, das Scheitern der Weimarer Republik, die monströse Unrechtsherrschaft des Nationalsozialismus, den Wahnsinn eines mutwillig angezettelten totalen Krieges, er hatte Zerstörung und Niedergang erlebt, Besatzung und maßloses Elend. Er hatte selbst unter den Nationalsozialisten Ausgrenzung und Erfolgung erfahren und war persönlich integer aus dieser größten Katastrophe der deutschen Geschichte hervorgegangen. Wie nachhaltig prägend die Politik dieses Mannes die Strukturen und das Gesicht dieses Landes in den folgenden Jahrzehnten bestimmt haben, wird wohl am besten dadurch deutlich, dass nicht nur die Wählerinnen und Wähler in ihrer eher launischen Weisheit und Güte mit bemerkenswerten Zuwächsen seine Politik honorierten, sondern fast noch mehr als dies durch den Umstand, dass sämtliche Richtungsentscheidungen, die er in der Gründungsphase dieser Republik vorgeschlagen, auf den Weg gebracht und in streitigen Auseinandersetzungen durchgesetzt hat, im Laufe der Jahre von allen relevanten politischen Kräfte dieses Landes adoptiert wurden. Die Übernahme von Grundlagen der Adenauerschen Nachkriegspolitik wurde in diesem Land gewissermaßen zum Test der Ernsthaftigkeit eines politischen Bewerbers. Ein grandioseres Dokument des Erfolgs demokratisch gestalteter Politik ist schwer vorstellbar. Es verdient in diesem Zusammenhang durchaus in Erinnerung gerufen zu werden, dass geradezu ausnahmslos jede dieser Richtungsentscheidungen das ziemliche Gegenteil dessen war, was man heute gerne einen Selbstläufer nennt. Ich erlaube mir die eher rhetorische Frage, welche dieser Entscheidungen, wie der Einführung der Marktwirtschaft, wie der Aufbau einer Armee, wie die Integration in den Westen, welche dieser Entscheidungen wohl ein Plebiszit überstanden hätte.

Ein Konsenspolitiker war Adenauer sicher nicht. Er hat den Streit geradezu gesucht, wo er ihn in der Sache für unvermeidlich gehalten hat. Und er hat ihn durchgestanden und auch damit ganz wesentliche Akzente für die Entwicklung einer demokratischen politischen Kultur in Deutschland gesetzt, für die es belastbare vorhandene Anknüpfungspunkte wenn überhaupt nur in einem sehr bescheidenen Umfang gab.

Dass dies alles in einem gelegentlich virtuosen Umgang mit anderen Verfassungsorganen stattfand, hat Frau Willms in ihren einleitenden Bemerkungen hinreichend deutlich angezeigt. Aber alle diejenigen, die sich mit der Art der Politikgestaltung von Konrad Adenauer kritisch auseinandersetzen, haben bei allen durchaus beachtlichen Einwänden gegen diese oder jene Vorgehensweise nie ernsthaft den Vorwurf eines Verfassungsbruchs oder eines mutwilligen Umfangs mit der Verfassung erhoben, die unter seiner tatkräftigen Führung im Parlamentarischen Rat damals formuliert worden war. Leichtfertig und offenkundig unüberlegt war allerdings seine erstaunliche Bewerbung für das Amt des Bundespräsidenten, vor der er ebenso kurzfristig zurücktrat wie er sie zur allgemeinen Verblüffung angemeldet hatte.

Das Thema, das die gesamte Amtszeit Konrad Adenauers in einer besonderen Weise begleitet und zugleich belastet hat, war das erklärte Ziel der Wiederherstellung der deutschen Einheit und die mal mehr und eher häufiger heftigeren Zweifel daran, ob sie unter den Bedingungen genau seiner Politik überhaupt jemals würde erreicht werden können. Konrad Adenauer selbst hat in seiner Abschiedsrede vor dem Deutschen Bundestag am 15. Oktober 1963 dazu folgende Bemerkung gemacht: „Wir haben die Wiedervereinigung noch nicht erreicht, obgleich ich glaube, dass wir am Horizont Möglichkeiten einer Wiedervereinigung kommen sehen, wenn wir achtsam und vorsichtig und geduldig sind, bis der Tag gekommen ist. Ich bin fest davon überzeugt, dass dieser Tag einmal da sein wird. Denn man kann einem Volke wie dem deutschen Volke nicht widersprechen und man kann keinen Widerstand leisten, wenn es in Frieden seine Einheit wiederherstellen wird.“ Allerdings, und das war Teil des Streites, so wenig Konrad Adenauer zu irgendeinem Zeitpunkt seiner Amtszeit daran gedacht hat, das Ziel der Wiedervereinigung aufzugeben, wenn es auch noch so unrealistisch erschien, so wenig ist er auch nur an einem einzigen Tag seiner Amtszeit in der Versuchung gewesen, die Einheit um den Preis der Freiheit zu realisieren. Das erklärt im übrigen hinreichend seinen Umgang mit der berühmt-berüchtigten Stalinnote 1952 und nimmt im übrigen ein Leitthema auf, das die Bundeskanzlerin heute morgen in ihrer Ansprache zitiert hat, nämlich seinen kurzen, knappen, programmatischen Satz: „Wir wählen die Freiheit.“ Dieser Satz findet sich übrigens, wenn meine Recherchen richtig sind, zum ersten Mal in seiner Parteitagsrede 1950, als Konrad Adenauer in schöner Bestätigung seiner eigenen Empfehlungen über einen föderalistischen Aufbau der Bundesrepublik Deutschland zum Bundesvorsitzenden der CDU Deutschlands erst gewählt wurde, nachdem er längst Bundeskanzler war.

Meine Damen und Herren, es gehört zu den Wahrnehmungsgewohnheiten im Umfang mit der Geschichte, den Ablauf der Ereignisse nachträglich für mehr oder weniger zwangsläufig zu halten. Tatsächlich war weder das Scheitern der Weimarer Republik zwangsläufig noch der Aufstieg des Nationalsozialismus, der Zweite Weltkrieg nicht und das Wiedererstehen eines neuen freien demokratischen Deutschland mit einer inzwischen weltweit geachteten Rolle in Politik und Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur schon gar nicht.

Als ich 1948 geboren wurde, war Deutschland ein vierfach geteiltes Land, politisch und wirtschaftlich zerstört, moralisch diskreditiert, mit einer zweifelhaften Zukunft. Ein Jahr später wurde die Bundesrepublik Deutschland gegründet, ein Grundgesetz beschlossen, ein freies Parlament demokratisch gewählt und Konrad Adenauer wurde erster Kanzler. Am Anfang war Konrad Adenauer. Dieser oft zitierte Satz aus Arnulf Barings Standardwerk über „Außenpolitik in Adenauers Kanzlerdemokratie“ gehört zu den grandiosen Vereinfachungen, die die Komplexität der Verhältnisse natürlich nicht annähernd hinreichend wiedergeben, aber mit traumwandlerischer Sicherheit das Wesentliche auf den Punkt bringen. Am Anfang war Konrad Adenauer. Er hat Deutschland länger regiert als die Weimarer Demokratie Bestand hatte. Dass die zweite deutsche Demokratie im Unterschied zur Weimarer Republik stabil wurde und stabil blieb, ist ganz wesentlich sein Verdienst. Als er 1963 zurücktrat mit der berühmten Bemerkung: „Ich gehe nicht leichten Herzens“, waren die politischen Institutionen in Deutschland gefestigt. Eine völlig neue politische Volkspartei war fest etabliert. Deutschland war Bestandteil der westlichen Welt, Mitglied des Atlantischen Verteidigungsbündnisses, Gründungsstaat der Europäischen Gemeinschaft. Die Versöhnung mit Frankreich war vollzogen, die Wiederherstellung der Beziehungen zu Israel auf den Weg gebracht. Die politisch-moralische Reputation Deutschlands war wiederhergestellt. Die Bundesrepublik Deutschland war inzwischen die größte und erfolgreichste Volkswirtschaft Europas, die Soziale Marktwirtschaft ein weltweit beobachtetes und bewundertes Konzept einer neuen, modernen Wirtschaftsordnung. Recht und Freiheit waren in einer bis dahin in der deutschen Geschichte unbekannten Weise gesichert. Die Einheit ließ noch weitere 25 Jahre auf sich warten. Dass sie schließlich dennoch möglich wurde, ist neben dem Freiheitswillen der Menschen in der damaligen DDR wie in ganz Mittel- und Osteuropa einer Politik der Bundesrepublik, der Europäischen Gemeinschaft und der Vereinigten Staaten zu verdanken, die Konrad Adenauer wie kein zweiter entwickelt, geprägt und gegen Widerstände durchgesetzt hat.

Bei seiner vorhin schon einmal zitierten Abschiedsrede vor dem Deutschen Bundestag hat Konrad Adenauer im Oktober 1963 zu Protokoll gegeben: „Ich bin stolz auf das deutsche Volk, ich bin stolz auf das, was das deutsche Volk in dieser verhältnismäßig kurzen Spanne Zeit geleistet hat. Wir Deutsche dürfen unser Haupt wieder aufrecht tragen, denn wir sind im Bund der freien Nationen ein willkommenes Mitglied geworden.“

Als Konrad Adenauer dies damals formulierte, wird den meisten Deutschen als schiere Selbstverständlichkeit erschienen sein, was den meisten Deutschen bei seinem Amtsantritt schlicht aussichtslos vorgenommen sein muss.

Meine Damen und Herren, die großen und die kleinen Aufgaben, die Tagesprobleme und die Herausforderungen, die wir heute in Staat und Gesellschaft bearbeiten und bewältigen müssen, beackern wir auf Feldern, die Konrad Adenauer zusammen mit anderen Gründungsvätern und -müttern bestellt hat. Und diejenigen von uns, die für begrenzte Zeit demokratisch gewählt in wichtigen Ämtern besondere Verantwortung übernommen haben, stehen mit nicht immer erkennbarer Bescheidenheit auf Konrad Adenauers starken Schultern. Was wir dabei tun und in der Wahrnehmung dieser Ämter leisten, ist – wenn überhaupt – wichtig, weil er bedeutend war.


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