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Grußwort anlässlich der Auftaktveranstaltung der Christlich-Muslimischen Friedensinitiative
am 19. Februar 2008 in Berlin

Exzellenzen,
verehrte Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten und Regierungen und Verwaltungen des Bundes, der Länder und der Kommunen,
meine Damen und Herren,

es gab Zeiten in Deutschland, da reichte das fröhliche Bekenntnis zu einer multikulturellen Gesellschaft als Nachweis der Weltoffenheit, Toleranz und Modernität völlig aus. Die Zeiten haben sich geändert und die Debatten auch. Die Christlich-Muslimische Friedensinitiative lädt zu der heutigen Auftaktveranstaltung mit dem ausdrücklichen Hinweis ein: „Weltweit zeichnen sich Spannungen zwischen islamischen Kulturenkreisen und der westlichen Welt ab, auch in Deutschland.“ Und dieser Hinweis auf die Lage wird verbunden mit einer Absichtserklärung: „Die Christlich-Muslimische Friedensinitiative möchte helfen, Brücken zu schlagen.“ Eine solche Initiative unterstütze ich gerne. Sie ist nicht einfach, aber sie ist nötig. Und ich bin überzeugt, sie ist auch möglich.

In den Begrüßungsworten ist schon mehrfach ein allgemeiner Hinweis auf die nicht einfache Lage erfolgt. Ruprecht Polenz hat von der Neigung oder der Versuchung zu wechselseitigem Misstrauen gesprochen. Tatsächlich lassen sich aus einer Reihe von Daten, von Umfragen, diese Versuchung, diese weitverbreiteten Einstellungen, Vermutungen und Stimmungen mühelos belegen. Es kann kein Zweifel daran sein, dass die Symptome einer sich verfestigenden, vielleicht vergrößernden Distanz zwischen denjenigen, die nach Deutschland gekommen sind, und denjenigen, die immer schon hier gelebt haben, in jüngerer Zeit eher stärker als geringer geworden sind. Und wir wissen aus Umfragen, dass sich die Vorstellung der Deutschen über den Islam in den vergangenen Jahren jedenfalls nicht in der Weise entwickelt hat, wie es ganz offenkundig den Initiatoren dieser Aktion ausdrücklich vorschwebt.

In einer Umfrage des Allensbach-Institutes im Jahre 2006 wurde deutlich, dass sich die Vorstellung der Deutschen über den Islam in der jüngeren Vergangenheit zunehmend eingetrübt hat. Und dabei ist der eigentlich besorgniserregende Punkt weniger der Vergleich zur Situation vor 10 Jahren. Dass die traumatischen Erfahrungen des 11. September 2001 zu einer gründlichen Veränderung in den Wahrnehmungen geführt haben, das kann niemanden ernsthaft überraschen. Aber dass sich – und das ist ein auffälliges Ergebnis dieser Untersuchung – zwischen 2004, also nach diesem Ereignis, und 2006 die Vorstellungen in der Weise verändert haben, wie sie sich verändert haben, das ist ein Anlass zur Besorgnis. Die Zahl derjenigen, die mit dem Islam Vorstellungen verbinden wie Fanatismus, Rückwärtsgewandtheit, Intoleranz, Mangel an Demokratie, hat zugenommen, ausnahmslos für alle diese genannten Merkmale. Und die Eigenschaft „Friedfertigkeit“ bescheinigen in dieser Umfrage aus dem Jahre 2006 dem Islam gerade acht Prozent der Deutschen.

Es gibt auch andere Umfragen. Eine Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen im Auftrag des ZDF im Juli vergangenen Jahres hatte das bemerkenswerte Ergebnis, dass fast die Hälfte der Deutschen es gut findet, dass es in Deutschland Moscheen gibt. Eine deutliche Mehrheit von 70 Prozent hat kein Problem mit dem Kopftuch einer Muslimin, aber in der gleichen Umfrage sagen 79 Prozent der Bundesbürger, sie hätten den Eindruck, dass die meisten hier lebenden Muslime nicht genug tun, um sich einzugliedern. Übrigens verbunden mit dem eher am Rande erfassten Zugeständnis, dass die allermeisten von sich erklären, sie fühlten sich eigentlich über den Islam nicht richtig informiert.

Und schließlich haben nach einer im Januar dieses Jahres veröffentlichten Studie des Weltwirtschaftsforums die inzwischen zahlreichen Foren eines Dialogs zwischen dem Islam und dem Westen, die es seit Beginn dieses Jahrhunderts zweifellos gibt, nicht wirklich zu einer Annäherung geführt. Die Autoren dieser Studie kommen zu dem Schluss, dass häufig eher der Monolog dominiere und die Dialogforen nicht oder kaum aufeinander abgestimmt seien. Im Übrigen, das wird den meisten von uns vertraut vorkommen, besteht auf beiden Seiten der tatsächlichen oder virtuellen Dialogpartner die gefestigte Auffassung, die jeweils andere Seite bemühe sich nicht hinreichend um eine Verbesserung der Beziehungen.

Man muss Umfragen nicht übertrieben ernst nehmen, aber man sollte sie auch nicht für belanglos erklären, schon gar nicht dann, wenn gemessene Daten mit den noch sehr viel subjektiveren Lebenserfahrungen übereinstimmen. Deswegen ist es ganz sicher gut und richtig, dass wir gerade in Deutschland vergleichsweise früh, früher jedenfalls als andere europäische Länder, dies auch zu einem politischen, auch zu einem staatlichen Anliegen gemacht haben. Ich sage das gerade deshalb, weil ich diese bürgerschaftliche Initiative für eine ganz besonders wichtige und unverzichtbare Ergänzung, aber natürlich nicht Alternative zu solchen staatlichen Bemühungen halte.

Deutschland hat als erstes westliches Land bereits 2002 einen Politikschwerpunkt „Dialog mit dem Islam“ im Auswärtigen Amt geschaffen. Es wurde das Amt eines Beauftragten für den Dialog mit der islamischen Welt eingerichtet, und das Parlament hat zusätzliche Mittel für Projekte und Austauschprogramme zur Verfügung gestellt, die nicht nur, aber insbesondere dem kulturellen Dialog gewidmet sind. Es gibt, wie Sie alle wissen, seit dem September 2006 die Deutsche Islamkonferenz auf Initiative der Bundesregierung, die als ein langfristiger Kommunikationsprozess gedacht ist, zwischen dem deutschen Staat und Vertretern der in Deutschland lebenden Muslime, die ihren Beitrag durch regelmäßige Kommunikation leisten soll zu einem breitangelegten Konsens über die Einhaltung gesellschafts- und religionspolitischer Grundsätze und Orientierungen in unserem Land und im Umgang miteinander.

Meine Damen und Herren, wenn mich mein Eindruck nicht trübt, sind vielleicht auch wegen der gerade knapp geschilderten Wahrnehmungen und Einstellungen und Vermutungen einschließlich der damit verbundenen Verunsicherungen in jüngerer Zeit die Einsichten gewachsen, dass eine moderne Gesellschaft nicht nur Vielfalt braucht, sondern auch Gemeinsamkeit. Und dass das jeweils eine das andere nicht ersetzen kann. Ohne Gemeinsamkeit erträgt eine Gesellschaft auch keine Vielfalt. Die spannende Frage ist längst nicht mehr, ob das eine das andere ersetzen kann, sondern wie diese Gemeinsamkeit zustande kommt. Integration kann man nicht auch gemeinsam schaffen, Integration kann man nur gemeinsam schaffen. Integration findet nur statt, wenn sie gewollt wird – auf beiden Seiten. Die Wahrheit ist, dass diese Minimalvoraussetzung nicht immer gegeben ist – auf beiden Seiten.

Integration ist sicher nicht dasselbe wie Assimilierung. Dass das eine mit dem anderen nichts zu tun habe, ist allerdings die nächste weitverbreitete Vereinfachung. Man fördert das eine Anliegen nicht, wenn man das andere mit dogmatischer Gebärde zurückweist. Schon gar dann, wenn es sich nicht um eine politisch zugemutete, gesetzlich erzwungene, sondern von vielen Menschen in diesem Lande mit dem berühmten Migrationshintergrund gewollte Anpassung an die Lebensverhältnisse, an die Traditionen dieses Landes handelt.

Ich selber komme aus einer Region, dem Ruhrgebiet, die erst durch Zuwanderung entstanden ist. Diese große deutsche Wirtschaftsregion gäbe es gar nicht, wenn sich in einem Zeitraum von gerade einmal 80 Jahren nicht weniger als vier Millionen Menschen in eine von den Abmessungen her sehr überschaubare Region zugewandert wären und wenn sie sich nicht integriert hätten. Ich kann von Erfolgsgeschichten berichten und von Erfahrungen des Scheiterns. Neben vielen objektiven Voraussetzungen, die darüber entscheiden, ob Integration stattfindet oder nicht, gibt es die mindestens so wichtige subjektive Voraussetzung, dass man sie will. Deswegen müssen wir vor allen Dingen die Menschen ermutigen, die sie wollen, und die begriffen haben, dass Integration natürlich nicht heißt, Wurzeln zu kappen, aber natürlich heißt, Wurzeln zu schlagen. Und wer das eine mit dem anderen für unvereinbar erklärt, hat eine der wesentlichen Voraussetzungen für gelungene Integration in diesem Land beseitigt.

Multikulturalität ist eine wunderschöne Erfahrung. Sie ist eine unverzichtbare Bereicherung, eine unvermeidliche nebenbei, also eine ebenso unvermeidliche wie unverzichtbare Begleiterscheinung moderner Gesellschaften in Zeiten der Globalisierung. Aber der richtige Hinweis auf die Multikulturalität unserer Gesellschaft ist doch kein Konzept zur Selbstverständigung und Orientierung unserer Gesellschaft. Und diese Orientierung ereignet sich nicht von selbst, sie muss erarbeitet werden. Gemeinsam.

Auch moderne Gesellschaften werden nicht durch Politik zusammengehalten, sondern durch Kultur, durch Überzeugungen, durch Orientierungen, durch Werte, die in einer Gesellschaft geteilt werden und die deshalb Grundlage auch von gesetzlichen Regelungen werden können. Keine dieser gesetzlichen Regelungen, auf die wir uns am leichtesten als gemeinsame Orientierung verständigen können, hat Bestand, wenn die kulturelle Grundlage erodiert, auf der diese gesetzlichen Regeln beruhen. Deshalb kann wiederum der richtige Hinweis auf die für alle gültige Verfassungsordnung und die sich daraus gründenden Gesetze die Verständigung über die kulturellen Grundlagen dieser Gesellschaft sicher nicht ersetzen. Verständigung wiederum findet entweder gemeinsam statt oder sie findet nicht statt. Und wir haben ein gemeinsames Interesse, dass sie stattfindet. Und deshalb - noch einmal - unterstütze ich diese Bemühung gerne, weil sie schwierig, weil sie nötig und weil sie möglich ist.

Die mit Abstand wichtigsten einzelnen Vermittler von Orientierungen, Überzeugungen, Werten in einer Gesellschaft sind die Religionen. Auch das hat man in unserer Gesellschaft zeitweilig ein bisschen unterschätzt und erreicht uns nun mit den üblichen Verzögerungen von Wahrnehmungen, an denen man vielleicht nicht so ein ausgeprägtes Interesse hatte und bei denen man irgendwann nicht mehr bestreiten kann, dass es gleichwohl so ist, wie es ist. Und deswegen müssen wir, wenn wir gerade auch unter dem Gesichtspunkt eines zivilgesellschaftlichen Engagements über dieses große Thema einer gemeinsamen Verständigung auf die gemeinsamen kulturellen Grundlagen unserer Gesellschaft reden wollen, über ein so kompliziertes Thema reden wie das Verhältnis von Politik und Religion. Nicht, weil es sich hier um Varianten von ein- und demselben handelte, sondern weil es sich nicht um Varianten von ein- und demselben handelt, jedenfalls nicht nach unserem Verständnis. Und da sind wir auch schon mitten im Thema.

Dieses außergewöhnlich sensible und gleichzeitig zentrale Thema „Politik und Religion“ kann ich heute Morgen in unserem Zeitrahmen nicht mit der Gründlichkeit behandeln, wie es dieses Thema ganz gewiss verdient. Aber ich will wenigstens einige wenige Hinweise geben, die vielleicht auch verdeutlichen helfen, warum dieses Thema so zentral und warum es eben gleichzeitig so schwierig ist. Religionen, meine Damen und Herren, handeln von Wahrheiten. Sie definieren Wahrheiten und Ansprüche. In dem sie das tun, integrieren sie und desintegrieren sie eine Gesellschaft zugleich. Es ist ein im übertragenen Wortsinn frommer Wunschglaube, dass Religionen immer und ganz gewiss Konsens in einer Gesellschaft stiften. Das war schon in vormultikulturellen Zeiten nicht wahr. Zu den Komplizierungen dieses Themas gehört, dass der Anspruch auf Wahrheiten Abstimmungen ausschließt. Mehrheiten können über Wahrheiten nicht befinden. Ob ein Satz wahr ist oder nicht, ist völlig unerheblich gegenüber der Frage, ob dieser Satz mehrheitliche Zustimmung findet oder nicht. Ob eine Botschaft wahr ist, darüber kann man in unterschiedlicher Weise befinden, sicher ist, dass man mit den Mitteln einer Mehrheitsentscheidung Wahrheiten nicht identifizieren kann. Was im Übrigen auch umgekehrt bedeutet, dass der höchst subjektive Anspruch auf Wahrheit durch den Hinweis auf haushohe gegenteilige Mehrheiten überhaupt nicht ernsthaft zu erschüttern ist.

Politik, meine Damen und Herren, handelt nicht von Wahrheiten, Politik handelt von Interessen. Der moderne Politikbegriff beruht geradezu auf der Bestreitung des Anspruchs ewiger Wahrheiten. Das jedenfalls in unserer Zivilisation entstandene Verständnis von Politik und demokratischer Ordnung beruht auf der Grundüberzeugung, dass es einen Anspruch auf ewige Wahrheit als Grundlage für konkretes gesellschaftliches Handeln nicht gibt. Und dass Anspruch auf allgemeine Zustimmung nur hat, was allgemeine Akzeptanz findet, in einer Gesellschaft also nur das Geltung hat, worauf sich diese Gesellschaft verständigt. Das Mittel zur Feststellung der Geltung ist die Mehrheitsentscheidung. Was die Mehrheit beschließt, gilt, auch wenn es nicht wahr ist. Das ist im Übrigen eine Quelle ewiger Auseinandersetzungen zwischen jeweiliger Regierung und jeweiliger Opposition, die natürlich beide von dem unerschütterlichen Glauben getragen und motiviert sind, dass sie selbst jeweils Recht und die vermaledeite Konkurrenz hoffnungslos Unrecht haben. Aber die Logik des Systems beruht auf der gemeinsamen Überzeugung, dass nicht Wahrheitsansprüche Entscheidungen legitimieren, sondern eine Verfahrensregel. Und die Verfahrensregel lautet: es gilt, worauf sich die Mehrheit verständigt – bis sich möglicherweise eine andere Mehrheit auf etwas anderes verständigt, was wiederum nicht wahr sein muss, aber wiederum gilt.

Spätestens an dieser Stelle meiner Ausführungen ist der Einwand unvermeidlich, das, was ich hier vortrage, sei doch ganz offenkundig das westliche, nicht unwesentlich christliche Staats- und Politikverständnis. Das ist wahr oder besser: das ist zutreffend. Genauso zutreffend wäre der Hinweis, der Islam, jedenfalls in der ganz großen Mehrheit seiner Interpreten, habe ein anderes Verständnis von Religion und Staat, von Glaube und Politik als das, was ich als den vorläufigen Endpunkt einer hochkomplizierten abendländischen Religions- und Politikgeschichte sehr verkürzt, aber ich hoffe, im Kern zutreffend, dargestellt habe.

Soweit es hier zwei ganz unterschiedliche Vorstellungen über das Verhältnis von Politik und Religion gibt, halte ich eine Einsicht für notwendig, vielleicht ärgerlich, aber unvermeidlich. Nämlich, diese beiden – so es sie denn gibt – unterschiedlichen Vorstellungen über die Legitimation politischer Entscheidungen, können nicht beide zugleich in ein- und derselben Gesellschaft gelten. Völlig ausgeschlossen. Es muss klar sein, was gilt. Der innere Zusammenhang jeder Gesellschaft, natürlich auch unserer – so besonders sind die Deutschen nicht, wie wir inzwischen auch verlässlich wissen – hängt von einem Mindestmaß an Gemeinsamkeiten ab, die für alle gelten. Ich persönlich finde es in einem hohen Maße aufschlussreich, persönlich auch ermutigend, dass es immer häufiger muslimische Intellektuelle gibt, die zu einer, wie sie selber sagen, modernen Interpretation des Islam und des Korans kommen, die sich diesem Verständnis der Trennung von religiösen Glaubensüberzeugungen auf der einen Seite und politischen Entscheidungen auf der anderen Seite annähern. Ob überhaupt und in welchem Umfang diese Autoren repräsentativ sind, ob sie längst einen Trend gesetzt haben oder eben nicht, das können andere sicher sachverständiger beurteilen als ich.

Dass es aber diese Stimmen gibt, dass sie zunehmen, begründet meine Überzeugung, dass es möglich ist und nicht nur nötig, was heute hier auf den Weg gebracht werden soll. Mir fällt in diesem Zusammenhang ein, dass gerade vor wenigen Wochen der langjährige Vorsitzende der Deutschen Katholischen Bischofskonferenz, Kardinal Lehmann, in einem Interview Aufsehen erregt hat mit der Bemerkung, von mir aus könnte man auch in Rom eine Moschee bauen, die größer ist als der Petersdom. Und er hat hinzugefügt, allerdings stelle ich mir vor, dass ich dann in Zukunft nicht mehr mit meiner Verhaftung rechnen muss, wenn ich in Saudi-Arabien eine Messe lese. Und er hat den einen wie den anderen sehr konkreten, sehr lebenspraktischen Bezug mit der allgemeinen Schlussfolgerung verbunden, ohne ein gewisses Maß an Reziprozität in der Gewährung von Religionsfreiheit als einem der unaufgebbaren Grundrechte und Menschenrechte werden wir das gemeinsame Problem schwerlich lösen können.

Meine Damen und Herren, die Bewältigung der Herausforderungen, von denen hier heute Morgen nicht zum ersten Mal und ganz sicher nicht zum letzten Mal die Rede ist, ist im Kern eine politische Aufgabe. Aber diese politische Aufgabe kann überhaupt nur gelöst werden, wenn sie von der Gesellschaft als Aufgabe begriffen und vor allem von der ganzen Gesellschaft auch als Aufgabe wahrgenommen wird. Deshalb drei ganz knappe Bemerkungen zum Schluss zum geforderten, gewünschten und gewollten Dialog der Kulturen.

Erstens: Bei wirklich ernsthafter nüchterner Betrachtungsweise gibt es keinen Dialog der Kulturen. Wie soll der eigentlich stattfinden? Ein Dialog kann es immer nur zwischen Individuen geben. Vielleicht gibt es ihn auch zwischen Institutionen, aber auch bei denen entscheidet sich die Frage, ob es ihn gibt und wie es ihn gibt über die handelnden Personen, die für diese Institutionen stehen. Das lässt mich mit besonderen Erwartungen und besonderer Zuversicht gerade auf die Konstellation blicken, die dieser Initiative zugrunde liegt.

Zweitens: Ein Dialog von Menschen unterschiedlicher religiöser Überzeugungen und mit unterschiedlicher kultureller Herkunft hat nur Sinn und hat nur Aussicht auf Erfolg, wenn die Bereitschaft besteht, zuzuhören, dazuzulernen und unterschiedliche Überzeugungen wechselseitig zu respektieren. Wenn dies für alle drei genannten Aspekte in unserem Land sichergestellt wäre, bräuchten wir diese Initiative nicht. Der Umstand, dass wir sie heute auf den Weg bringen, ist die Demonstration unserer Einsicht, dass wir hier was tun müssen. Auch übrigens auf beiden Seiten.

Die König-Fahad-Akademie in Bad Godesberg zum Beispiel war über Jahre hinweg nach allem, was wir wissen, kein Trainingscamp zur Einübung des Dialogs der Kulturen. Insofern, das gehört zur Ernsthaftigkeit einer solchen Veranstaltung dazu, es reicht nicht, Konferenzen zu veranstalten, in denen man die Notwendigkeit des Dialogs beschwört, wenn die Umsetzung dieser Einsicht dann im Alltag verzögert oder verweigert wird, scheitert oder nicht einmal in Angriff genommen wird.

Drittens schließlich: Ein ernsthafter und ein gelungener Dialog bliebe auch dann folgenlos, wenn er nicht Adressaten findet, die das, was man gemeinsam als richtig und notwendig erkannt hat, auch umzusetzen bereit und in der Lage sind. Und dass wir hier ein nicht zu unterschätzendes ganz praktisches handfestes Problem in den vergangenen Jahren hatten, auch dies scheint mir eine der grundlegenden Einsichten zu sein, auf denen diese Initiative beruht. Deswegen freue ich mich, dass dies in der Verbindung von Persönlichkeiten und Institutionen beginnt, die heute Morgen hier dargestellt worden ist, dass das Interesse der türkischen Religionsgemeinschaften durch DITIB zum Ausdruck gebracht wird und dass die Städte sowohl in Gestalt der Oberbürgermeister wie in Gestalt ihres gemeinsamen Verbandes, des Deutschen Städtetages, sich ausdrücklich und demonstrativ an die Spitze dieser Initiative stellen.

Meine Damen und Herren, Kofi Annan, der langjährige Generalsekretär der Vereinten Nationen, hat sein von ihm herausgegebenes Manifest mit dem Titel „Brücken in die Zukunft“ mit einem Zitat des bedeutenden islamischen Mystikers Rumi beendet, das ich gerne auch an den Schluss meines Beitrages stellen möchte, weil es sich vielleicht als Motto der Bemühungen eignet, die hier auf den Weg gebracht werden sollen. Das Zitat lautet: „Draußen hinter den Ideen von rechtem und falschem Tun liegt ein Acker. Wir treffen uns dort. Das ist die ganze Aufgabe. Aber um sie zu erledigen, bedarf es zweier Voraussetzungen. Erstens man muss sich treffen wollen. Und zweitens muss man den Acker tatsächlich bearbeiten.“

Man muss sich treffen, man muss tatsächlich arbeiten. Und vor allem: man muss es wollen.


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